7018344-1988_35_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Sommerfrische

Werbung
Werbung
Werbung

Am Horizont erscheint ein Kirchturm mit spitzem rötlichem Dach, ein wuchtiger Schloßbau am felsigen Hügel und die steinernen Quader einstiger Wehrtürme. Sie ragen wie fernes, erträumtes Land aus dem langsam weichenden Nebel der Erinnerung.

Eine Uberraschungsfahrt hieß es, ein Geburtstagsgeschenk, Augen zu, du wirst staunen. Allmähliches Begreifen: Sie wollen dir ein Stück Vergangenheit sehenken, das Wiedersehen mit dem Ort, der viele Jahre lang, während düsterer Wintermonate und durchlittener Schulstunden das heiß ersehnte Ziel war — die Sommerfrische von damals.

So breit war die Einfahrt aber nicht. Ist es noch dieselbe Straße, die hier von dicht gereihten Häusern in modischer Architektur gesäumt wird, als stünden Mannequins zum Empfang Spalier? Nicht zu genau hinsehen. Doch da windet sich plötzlich das immer noch schmale Gäßchen zwischen vertraut anmutenden krummen Fassaden. Weißt du noch? Rechts der Eckpfeiler mit dem mittelalterlichen Auslug, „um den Feind zu sichten“, hat die Mutter erklärt, und darunter muß der Delikatessenhändler gewesen sein, bei dem sie den Schinken fürs Nachtmahl kaufte. Ein mit grellen Plakaten ausgestattetes Verkehrsbüro — nicht hinsehen. Aber links, im Haus mit der blassen Inschrift im rissigen Marmor, befand sich die Modewarenhandlung: Strümpfe, Dirndl, Blusen, Gummibänder, Spitzen — und der geschniegelte Schönling, um den sich wilde Schürzenjäger-Gerüchte rankten. Sein geziert-albernes Lächeln: „Was darf es heute sein, gnädiges Fräulein?“

Da ist der Hauptplatz mit der Roland-Säule und gleich ein Hauch jenes gruseligen Erschau-erns, mit dem man sich einst an den rauhen Stein lehnte und die Hände in die rostigen Eisenringe legte, die den Verbrecher an den Pranger fesselten. Die jahrhundertealten Bürgerhäuser umrunden, touristenwirksam aufgefrischt, in weitem Bogen den Platz. Gepflegte Inschriften prunken mit Jahreszahlen. Und dort: der gewisse Gasthof, du lieber Himmel, es gibt ihn noch.

„Gefällt's dir, daß wir hergefahren sind? Freust du dich?“

Freundliches Bejahen. Es ist nicht erklärbar, daß die Nebel zu plötzlich zerrissen sind und ein leiser Schmerz spürbar wurde. Kommt er von der Wehmut um Vergangenes oder eher aus der jähen Erinnerung, mit der sich Abgelebtes, Versunkenes ans Licht drängt?

Im bekiesten Gastgarten unter den alten Kastanien gab es häufig Kalbsbraten mit Reis und Erdäpfelsalat, und sonntags Stanitzel mit Schlagobers zum Dessert. Der plattfüßige, böhmakelnde Kellner schwitzte an den heißen Sommermittagen, und der Wirt mit den dicken Brillengläsern mußte ihm aushelfen, im Laufschritt vorgeneigt, vier bis sechs Krügel in den klobigen Händen. Abends begleitete er die Kinovorstellung im Saal mit unermüdlichem Klavierspiel.

„Wo hast du deine schönen blauen Augen her?“ bevorzugte er in seinem Repertoire besonders und untermalte damit auch dramatische Kampfszenen auf der Leinwand. Im gleichen Saal mit der Bühne fand allsommerlich — Spitzenereignis der Saison — der Wohltätigkeitsabend unter Beteiligung darbietungsfreudiger Gäste statt, und bei der Versteigerungtrat sogar der Graf aus dem Schloß persönlich auf, was die Spendenfreudigkeit beträchtlich erhöhte. Man hatte sein schönstes Kleid an, gewann aber leider weder den Vogelkäfig noch die große Torte, sondern bestenfalls ein Lebkuchenherz oder eine Glasperlenkette.

Aber erst die Kirtage! Hallende Blechmusik mit Trompetensoli, Budenzauber, bunte Koriandoli, von verwegenen Anbetern einem übers Haar oder in den Halsausschnitt gestreut. Dröhnendes Gestampfe auf dem hölzernen Tanzboden, Geruch nach Bier, Staub, Schweiß und nach heißen Wursteln mit Senf. Polka und Walzer und Foxtrott, dazwischen ein falsch intonierter schwül-mondäner Tango. Angeberisches Tanzschulgehabe und die grausame Freude, der gleichaltrigen Rivalin ihren Sommerflirt auszuspannen. War ich das wirklich? Ich?

„Wir haben jetzt auch eine Disco“, betont die alte Wirtin, die sich ebenfalls noch an manches Frühere erinnert. Sie seufzt: „Aber das ist mehr für die Jungen.“ War nicht auch damals schon vieles nur für die Jungen? Meine jugendlichen Begleiter sehen mich verunsichert an. „Sag, was du gern noch sehen möchtest.“

War's nicht fast schon zuviel? Nein, das Rad wurde zurückgedreht und läuft weiter. Da gibt es noch Immer die Promenade entlang der Stadtmauer, auch die Bänke beim alten Schießstand unter den Linden. Duftende Sommerabende voll romantischer Verheißung: Da saßen wir im Mondlicht und sangen alte Lieder und kitschige Schlager.

„Das hat deine Schönheit gemacht, sie hat mich zum Lieben gebracht, doch ich muß schei-ei-den .. i“ Noch tat kein Abschied weh, und das Lachen saß locker. Auch der Spott. Warum mußte der ewig anhanglose junge Maler auch mit seiner hohen Fistelstimme ein trauriges Lied anstimmen und sich dabei wie Caruso gebärden? „Mir aber blieb aus jener Zeit ein Lied und eine Rose...“

Wir sahen seinen Adamsapfel tanzen und kicherten. Aber Mama hatte Tränen in den Augen.

Endlich der Blick auf den Fluß. Er windet sich unverändert — ein breites goldbraunes Band — rund um^Jen felsigen Hügel. „Wir haben jetzt ein neues Bad mit allem Komfort!“ Nein, ich will hinunter zum alten, dem aus Jugendstil-Pietät geduldeten. Der so oft begangene Weg, die Wiese, Zeugin so manchen Sonnenbrandes. Die Holztreppe zu den Kabinen. In dieser oder in der nebenan muß ich meinen Badeanzug angezogen haben. Es riecht noch genauso wie damals nach feuchtem Holz und Moos, und die Ufersteine sind al-.gig grün. Zu dem Felsen mit dem Walroßrücken dort drüben bin ich voll sportlichem Ehrgeiz hingeschwommen. Sind es dieselben alten Weiden, die sich so tief über den träge dahingleitenden dun-, kelglänzenden Spiegel neigen?

Alles . fließt, alles verändert sich. Wie sollte ich noch dieselbe sein? Den Steig zum lauschigen Salettl, an dem die vielen Heckenrosen blühten, säumen prahlerische Zweitwohnsitze. Für die Tennisplätze wurde ein Stück vom Zyklamenwald gerodet. Und was im Fluß, der in der Sonne wie dunkler Bernstein schimmert, alles dahintreibt, möchte ich zu genau gar nicht wissen. Alles verändert sich. Ob zum Besseren oder zum Schlechteren: wer ist befugt, darüber zu richten?

Die Rückschau schmerzt nicht mehr. Der Blick ins vergilbte Bilderbuch hat sich gelohnt; ich danke euch, Kinder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung