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Die Sowjet-Führung siecht in die Zukunft

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Seit seinem Amtsantritt verschwindet Kreml-Chef Tschernenko immer wieder mehrere Monate von der Bühne, um dann ebenso überraschend wieder aufzutauchen. Kann die UdSSR sich das leisten?

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Seit seinem Amtsantritt verschwindet Kreml-Chef Tschernenko immer wieder mehrere Monate von der Bühne, um dann ebenso überraschend wieder aufzutauchen. Kann die UdSSR sich das leisten?

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Uberraschend ist der sowjetische Partei- und Staatschef Konstantin Tschernenko am vergangenen Sonntag nach zweimonatiger Abwesenheit von der politischen Bühne in den Blickwinkel der Öffentlichkeit zurückgekehrt. Das sowjetische Fernsehen zeigte Tschernenko für Augenblicke aus Anlaß der Wahlen zum Obersten Sowjet der Unionsrepubliken — gleichsam, um zu beweisen, daß der Mann im Mittelpunkt eines ausgeprägten Persönlichkeitskultes wirklich noch am Leben ist.

Zwei Tage vorher war offiziell zugegeben worden, daß der Erste Mann in Staat und Partei krank sei, eine Neuheit in der letzten Geschichte dreier siechender Sowjet-Führer hintereinander.

Uber die Art der Krankheit Tschernenkos läßt sich durch die Momentaufnahme freilich nichts sagen. Er sprach nicht und wirkte, wie wenn er ferngesteuert wäre. Gerüchte und Ferndiagnosen treten so an die Stelle von Krankheitsbulletins, die im Kreml nun einmal nicht herausgegeben werden: Danach hat Tschernenko einige Schlaganfälle hinter sich, leidet an Emphysem, der Krankheit des physischen und geistigen Verfalls mit Schädigung des Herzens.

Der Chefkardiologe der Sowjetunion, Jewgeni Tschasow, hat seinen Aufenthalt in den USA vor-zeitigabgebrochen,offensichtlich, um dem Kremlherrn beizustehen. 'Im übrigen tragen die Todesurkunden der Vorgänger Breschnew und Andropow die Unterschrift Tschasows.

Kann sich eine Weltmacht wirklich leisten, von aktionsunfähigen, todgeweihten Greisen geführt zu werden? Die kultischen Lobeshymnen und ständigen Zitate des Führers sind Ersatz für die krankheitsbedingte Absenz. Die alten Herren in der Entscheidungszentrale, dem Politbüro, einigten sich eben nur auf eine Ubergangslösung nach Andro-pows Tod, aus Furcht, ein jüngerer und energischer Politiker könnte die Siebziger in Pension schicken und ihrer Macht entkleiden.

An dieser Konstellation wird sich nicht allzu viel ändern, wenn Tschernenko für immer die Augen schließt. Die logische Folge der Machterhaltung im exklusiven Kreis ist denn eine Epoche, die mehr durch das Führungskollektiv, als durch eine Persönlichkeit geprägt ist.

Einen besonderen Ehrenplatz in der Geschichte hat sich Tschernenko sicherlich nicht verdient. Der Elan der ersten Phase Andropow, den Arbeitseifer der Sowjetbürger anzustacheln und der Korruption das Handwerk zu legen, ist unter Tschernenko wieder verlorengegangen. Die dringend benötigte Wirtschaftsreform läßt auf sich warten. Statt dessen beläßt man es im roten Reich bei längst überlebten Methoden, die Verschleuderung und Ineffizienz nur verstärken.

Die Außenpolitik war das Thema der „Wahlkampf-Rede Tschernenkos, die schließlich von Ministerpräsident Tichonow vorgelesen worden war. Tschernenko che zu erreichen—dann, wenn das östliche Reich nach Möglichkeit von einer starken Persönlichkeit geführt wird.

Im übrigen war die Außenpolitik niemals die Domäne des heutigen Kremlführers. Diese liegt vielmehr schon seit Jahrzehnten in den Händen von Außenminister Gromyko und von Boris Po-nomarjow, Haupt der internationalen Abteüung beim Zentralkomitee. Dieser Umstand garantiert eine gewisse Stetigkeit und Folgerichtigkeit sowjetischer Außenbeziehungen.

Das plötzliche Erscheinen' Tschernenkos könnte das Vorspiel zu einem freiwilligen Rücktritt des Kremlchefs sein, wie es ihn in sowjetischer Geschichte noch nie gegeben hat. Derweilen wartet die Sowjetunion und wahrscheinlich auch die westliche Welt auf jenen Mann, dem allgemein der Titel Erbe oder Thronfolger zuerkannt wird: Michael Gorbatschow, mit 53 der Jüngste im Kreis der Kremlspitze.

Wenn es nach dieser Kampagne zu einer Wahl ohne Alternative -in demokratischen Augen sicherlich eine Farce — geht, dann ist Gorbatschow die Nachfolge nicht mehr zu nehmen. Der Kontrast zum gewissermaßen auf der Bahre getragenen Wähler Tschernenko ist offensichtlich: Gorbatschow gab zusammen mit seiner Familie seine Stimme ab, jovial scherzend und energisch wie stets.

In der hierarchisch geordneten rüstungsfreudigen Militärs von ihr erwarten und die darbenden Konsumenten von ihr erhoffen.

Auf diplomatischem Parkett ist Gorbatschow, wie er auf seinen seltenen Reisen nach Kanada und Großbritannien bewiesen hat, ein gewandter Akteur, seine verhältnismäßige Jugend läßt eine lange Zeit der Führung erwarten. Eine in fünf Jahren aufgebaute Machtbasis in der Zentrale ist stärker als die seines Hauptrivalen Gre-gori Romanow, der erst verhältnismäßig spät aus der zweiten Hauptstadt nach Moskau transferiert worden ist.

In grundlegenden Fragen ist der neue Wächter der Ideologie im Kreml allerdings nicht weniger felsenfest als die anderen Prätendenten. Jetzt schon geoffenbarte liberale Tendenzen brächten den Favoriten um die Chance höchster Macht, noch bevor er diese erreicht hat.

Er muß nicht nur den neun Jahre älteren Romanow ausstechen, sondern auch die alte Garde überzeugen, die sich wieder auf einen Ubergangskandidaten — etwa den 70jährigen Moskauer Parteichef Viktor Grischin — einigen könnte, auf einen ihrer Altersstufe. Am Wahlsonntag in Moskau zeigte sich Grischin wie der kommende Kremlherr, der bestechenden Selbstsicherheit eines Gorbatschow um nichts nachstehend. Doch der Dritte ist noch nicht aus dem Rennen.

Romanows Aussichten sind gestiegen, seit das Verteidigungsministerium nicht ihm, sondern dem Beruf smüitär Sergei Sokolow anvertraut worden ist. Im Politbüro gebietet der einstige Parteichef von Leningrad über den militärisch- industriellen Komplex, eine der drei Machtsäulen im Sowjetsystem. Nicht von ungefähr ist der Namensträger der monarchischen Dynastie als „Falke des Kremls” verschrien: orthodox bis ins Knochenmark, kompromißlos und buchstäblich der Ideologie rief darin Washington auf, die Abrüstungsgespräche in Genf „ernst und nach bestem Glauben” zu führen, ohne irgendwelche „sinnlose Hoffnungen”, die Übermacht über die Sowjetunion zu gewinnen. Wohlweislich hat der verhinderte Festredner das für den Kreml so unangenehme Thema der Rüstung im All durch die Vereinigten Staaten vermieden.

Ein kranker Sowjetführer — das ist nicht gerade die beste Voraussetzung für Genf. Entscheidendes wird sich vorerst nicht tun. Moskau verspricht auf Zeit zu spielen, um auf lange Frist das Bestmögli-

Reihenfolge der Wahlredner sprach Gorbatschow als letzter vor Ministerpräsident Tichonow und Parteichef Tschernenko und wählte als Thema jenes Gebiet, auf dem er in den letzten Monaten reiche Erfahrung gewonnen hatte: die Außenpolitik. Nicht nur die Supermacht Amerika stünde im Blickwinkel der Sowjetunion, auch die europäischen Staaten, sofern diese an einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion interessiert seien.

Gorbatschows Stärke ist die Wirtschaft, die unter seiner Führung hergeben könnte, was sie jetzt noch nicht kann: das, was die verhaftet, wie sich in seinen Äußerungen gegen Religion und nonkonformistische Kunst zeigt.

Grundlegende Reformen, solche, die wie Dezentralisierung an den Kern der Weltanschauung gehen, sind von ihm nicht zu erwarten. Romanows Erfolgsbilanz aus Leningrad — überdurchschnittliche Verbesserung der Schwerindustrie, allerdings auf Kosten des Konsums, Durchsetzung von Disziplin und Effizienz — sind beste Referenzen für große Ansprüche. In den Fragen strategischer Abrüstung ist er, nicht Gorbatschow, der zuständige Mann im Politbüro.

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