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„Die soziale Frage dieses Jahrhunderts“

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Ein fundamentaler Konflikt rückt immer mehr in das Bewußtsein der westlichen Gesellschaft - zwar weniger populär als die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt, im Grunde genommen aber doch viel entscheidender für die zukünftige Entwicklung der Menschheit: der Nord-Süd-Konflikt, also der schier unüberwindlich erscheinende Gegensatz zwischen den Industrieländern auf der nördlichen und den Entwicklungsländern auf der südlichen Halbkugel. Ein Problem, das zusehends die Begegnung mit der Dritten Welt bestimmt und das jeden der über vier Milliarden Erdenbürger angeht. Letzte Woche stand die Nord-Süd-Problematik in Wien auf der Tagesordnung, wo sich die „Brandt-Kommission“ zu ihrer Schlußsitzung traf.

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Ein fundamentaler Konflikt rückt immer mehr in das Bewußtsein der westlichen Gesellschaft - zwar weniger populär als die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Welt, im Grunde genommen aber doch viel entscheidender für die zukünftige Entwicklung der Menschheit: der Nord-Süd-Konflikt, also der schier unüberwindlich erscheinende Gegensatz zwischen den Industrieländern auf der nördlichen und den Entwicklungsländern auf der südlichen Halbkugel. Ein Problem, das zusehends die Begegnung mit der Dritten Welt bestimmt und das jeden der über vier Milliarden Erdenbürger angeht. Letzte Woche stand die Nord-Süd-Problematik in Wien auf der Tagesordnung, wo sich die „Brandt-Kommission“ zu ihrer Schlußsitzung traf.

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Die Fakten, die diesen Nord-Süd-Gegensatz dokumentierten, sprechen für sich selbst:

• Mindestens ein Drittel der Weltbevölkerung ist außerstande, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, leidet an Hunger und Unterernährung. Während im entwickelten Norden der tägliche Nahrungsmittelverbrauch pro Kopf rund 2000 Gramm beträgt, müssen sich die Bewohner des unterentwickelten Südens mit 500 Gramm begnügen. • Rund 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung der Entwicklungsländer sind nach amtlichen Angaben ohne Beschäftigung (tatsächlich ist die Arbeitslosenrate noch viel höher). In den Städten des Südens nimmt die

Bevölkerung doppelt so schnell wie die Zahl der Arbeitsplätze zu.

• Viermal mehr Säuglinge als in den Industrieländern sterben in den Entwicklungsländern.

• Die Lebenswerwartung liegt in westlichen Industrieländern um 40 Prozent über jener in den Entwicklungsländern;

• Die Zahl der Analphabeten wird auf 800 Millionen geschätzt; fast alle davon leben in Entwicklungsländern.

Willy Brandt, Vorsitzender der unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen, bezeichnete die Regelung des Nord-Süd-Verhältnisses als „die soziale Frage für den Rest dieses Jahrhunderts“. Die Hauptaufgabe der Kommission liege darin, die Entscheidungsträger und die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, daß tiefgreifende Veränderungen in den internationalen Nord-Süd-Beziehungen erforderlich seien, um eine gerechtere Ordnung zu schaffen.

Die Entwicklungsländer fordern in diesem Zusammenhang immer lauter die „Neue Weltwirtschaftsordnung“. Sie soll nicht nur die Neuordnung der internationalen Arbeitsteilung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beinhalten, sondern auch die Reform des institutionellen Rahmens der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Zuletzt wurde die industriealisierte Welt mit dieser Forderung wieder auf der vor kurzem beendeten Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD V) in Manila konfrontiert (die FURCHE wird darüber noch gesondert berichten).

Westliche Kritiker bezeichneten die Neue Weltwirtschaftsordnung unter anderem als eine Übertragung des Klassenkampfes auf die internationale Ebene. Daß eine solche Argumentationsweise wenig zur Nord-Süd-Entspannung beiträgt, ist klar, zeugt sie doch davon, daß die Dritte Welt noch vielerorts nur als Exerzierfeld für den Ideologiewettbewerb aufgefaßt wird. Dabei hatte die Übertragung des Ost-West-Konfliktes auf die Nord-Süd-Problematik bislang nur verhängnisvolle Auswirkungen: Konflikte und Spannungen wurden programmiert, Lösungen und Entspannung blockiert!

Sicherlich: Die kommunistischen Industrieländer setzen bei ihrem Umgang mit der Dritten Welt noch immer auf den Ideologieexport, offerieren die Planwirtschaft als Allheilmittel und liefern Waffen für die „Befreiung“. Aber wie die Verschlechterung des Klimas zwischen Entwicklungsländern und dem kommunistischen Ostblock bei der Konferenz in Manila gezeigt hat, beginnt die Dritte Welt die Doppelzüngigkeit der Politik des Kreml sehr wohl zu durchschauen.

Der Ruf der Entwicklungsländer nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung hört sich nicht nur an wie ein Verzweiflungsschrei, er ist es auch. Nur scheint es aus „nördlicher“ Sicht grotesk, daß die teilweise dramatische Verschlechterung der Situation ■ in den ärmsten der armen Länder, uns, den Industriestaaten, angelastet wird. Denn diese ist vor allem durch die ölpreiserhöhungen der letzten Jahre verursacht worden, und die haben die ölproduzenten festgesetzt, also Staaten, die sich selbst zur Dritten Welt zählen.

Was Wunder, wenn die zum Teil sehr emotionell vorgetragenen Forderungen des Südens an den Norden von den Industrieländern öfters mit Verweisen auf die Uneinigkeit und Ungleichheit der Dritten Welt zurückgewiesen werden. Und solche Vorwürfe gibt es noch mehrere andere: der Süden habe keine eigenen entwicklungspolitischen Programme und Strategien entworfen, Desorganisation, Mißwirtschaft und Korruption würden vielfach dazu beitragen, daß Hilfsprogramme völlig ergebnislos blieben.

Besonders alarmierend aber ist der Anstieg der Rüstungsausgaben in der Dritten Welt: Rund 15 bis 20 Prozent der öffentlichen und privaten Entwicklungshilfe an die Dritte Welt werden von den Entwicklungsländern in unproduktive Vernichtungswaffen investiert. Dabei nehmen die südlichen Waffenkäufe jährlich um etwa 17 Prozent zu. Dementsprechend erhöht sich das Konfliktpotential in der Welt.

Auch die „Brandt-Kommission“ hat dieser Problematik ein besonderes Augenmerk zugewandt und betont in einer Informationsbroschüre zu ihrer Arbeit: „Die Kürzung der Rüstungsaufgaben und eine Aufstockung der Mittel für die Entwicklung unserer Welt sind notwendige und zugleich sich gegenseitig verstärkende Instrumente zur Schaffung eines dauerhaften Friedens.“ Die Rüstungsfrage nur als eines der gewaltigen Probleme, die einer echten Nord-Süd-Entspannung im Wege stehen. Daneben gibt es noch unzählige andere, wo die Interessen zwischen Nord und Süd diametral entgegengesetzt erscheinen: die Frage der Rohstoffversorgung etwa, die durch die immer bedrohlicher werdende Energiekrise besonders brennend geworden ist.

Der industrialisierte Norden möchte eine gesicherte Rohstoffverr sorgung zu möglichst stabilen Preisen, die betroffenen Entwicklungsländer wollen einträgliche Preise und darüber hinaus ein integriertes Programm. Dabei wirft die Dritte Welt den Industrieländern vor, daß diese zwar lautstark Verhandlungen zwischen Erzeugern und Verbrauchern von Erdöl verlangen, weil dort andere die Preise diktieren, aber keinerlei Interesse an Verhandlungen zeigen, wo der Norden als Verbraucher noch immer die Preise diktieren kann.

Erhard Eppler, ehemaliger deut- 1 scher Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, erinnert an • diesen Widerspruch unserer Politik den Entwicklungsländern gegenüber in seinem Buch „Ende oder Wende“ (DTV):

„Es ist eben nicht wahrscheinlich, daß wir vorteilhafte Abmachungen über ölpreise und ölmengen erreichen werden, solange wir uns gegen Abmachungen über solche Rohstoffe sperren, bei denen nach wie vor der Verbraucher das Sagen hat. Die erdölverbrauchenden Entwicklungsländer werden - entgegen ihren unmittelbaren Interessen - solange die ölproduzenten stützen oder doch zumindest schonen, wie wir nicht bereit sind, ihren eigenen Interessen Rechnung zu tragen.“

Der deutsche Entwicklungsexperte spricht in diesem Zusammenhang eines der Grundprobleme des Nord-Süd-Verhältnisses an: die sture und zu sehr auf eigene Vorteile bedachte Politik des Nordens. Allerdings: Diese Vorwürfe treffen vielfach auch auf die Haltung der Dritten Welt zu. Was für eine wirkliche Entspannung des Nord-Süd-Verhältnisses deshalb dringend notwendig erscheint, ist ein Abrücken von den festgefahrenen Fronten und den vielen Vorurteilen auf beiden Seiten der Halbkugel. Die Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen könnte in diesem Zusammenhang Signale für die Zukunft setzen...

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