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Die sozialen Wurzeln der Sexualmoral

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Franz Ritschis Artikel „Die Se-xualisierung führt in die Irre" (FURCHE, Nr. 49/8D führt in die Irre, weil der Autor nicht definiert, was er unter „Sexualisie-rung" versteht. Er wirft zwei einander diametral entgegengesetzte Tendenzen, Sexualreform und sexuelle Vermarktung, in den selben Topf und konfrontiert sie dann mit den höchsten Forderungen der katholischen Sexualmoral, als ob alle drei vergleichbar wären.

Jede einzelne der Untugenden, die F. Ritsehl mit Recht beklagt, zeichnet sich aber nicht nur im Geschlechtsleben, sondern auch im Berufsleben ab. Wenn alle diese Untugenden aber im Berufsleben als Tugenden geschätzt werden, wie kann man dann von uns verlangen, wir sollten sie im Geschlechtsleben als Untugenden betrachten? Wie sollten Menschen, die ihren Lebensunterhalt in einer auf rücksichtslosem Gelderwerb, verbittertem Konkurrenzkampf und systematischer Verschlossenheit beruhenden Gesellschaftsordnung verdienen, ausgerechnet in ihrem Geschlechtsleben fähig sein, sich von finanziellen Erwägungen zu befreien, keinen Konkurrenzkampf zu führen und sich offen zu verhalten?

Wie sollen wir die aus der Marktwirtschaft entlehnten Moralvorstellungen unseres Berufslebens mit den der Marktwirtschaft total widersprechenden Forderungen der katholischen Ehemoral unter einen Hut bringen, ohne dabei schizophren zu werden? Mit welchen psychischen Kräften sollen wir im Geschlechtsleben jene Konsummentalität vermeiden, die uns im Geschäftsleben mit allen Mitteln der Werbung eingehämmert wird?

Wie kann jemand hoffen, daß wir fehlbaren Geschöpfe uns ausgerechnet in unseren sexuellen Beziehungen dem Gesetz „Je mehr, desto besser", das sowohl

Produktion wie Konsum in unserer Gesellschaft regiert, entziehen können? Wenn im Beruf von uns Leistungen und immer mehr Leistungen erwartet werden, wie können wir dann der Versuchung entgehen, uns auch im Geschlechtsleben am Leistungsprinzip orientieren zu wollen — auch dort so viele Partner wie möglich zu befriedigen, ihnen so viele Orgasmen wie möglich zu verschaffen, und das alles in der Illusion, etwas Gutes für den anderen zu tun?

F. Ritschis Behauptung, daß es irgendwo auf dieser Erde Sexualreformer gebe oder gegeben habe, die den Zustand der Vermarktung unserer sexuellen Wünsche, Ängste und Aktivitäten angestrebt hätten, stimmt ebenso wenig wie seine These, daß der gegenwärti-

Sexualität und Gesellschaft: ein wichtiges Thema. Die FURCHE teilt nicht die im vorliegenden Beitrag aufgestellte einseitige These, hält jedoch die Diskussion darüber für notwendig. Sie hat daher den Autor des kritisierten Artikels zu einer Replik eingeladen.

ge Zustand der sexuellen Zerrüttung im bürgerlichen Westen etwas mit den Bestrebungen der „Sexemanzipation" zu tun habe.

Erstens ist es signifikant, daß in den „Volksrepubliken" und den Ländern des „realen" Sozialismus eine sehr viel strengere Sexualmoral als im Westen herrscht, und zweitens kenne ich keinen Westlichen Sexualmediziner, der je das von F. Ritsehl angeprangerte Ausleben sexueller „Triebe" verlangt hätte. Im Gegenteil: Die Schwerpunkte der Sexualreform, die wir — die Sexualmediziner—bereits in der Donaumonarchie angestrebt hatten, lagen ganz woanders: nämlich in unserer Kritik an den aus der kapitalistischen Sozialmoral ins Geschlechtsleben verpflanzten Wertmaßstäben.

Wir protestierten gegen die Entfremdung und Verdinglichung der Liebe in der bürgerlichen Ge-Seilschaft, gegen die vom Warenkult erzeugte Lieblosigkeit und die vom Mannesideal des Kapitalismus erzeugte Angst vor Zärtlichkeit, gegen den ins Geschlechtsleben übernommenen Leistungsdruck, vor allem aber gegen das sich auch in der Ehe niederschlagende Konkurrenzdenken und gegen die aus der

Marktwirtschaft übernommene Buchhaltermentalität im Geschlechtsleben: „Ich, der hart arbeitende Mann, rackere mich ab, um für dich, liebe Frau, Geld nach Hause zu bringen. Deshalb hast du mich, wenn ich zur Nacht müde heimkomme, gefälligst zu befriedigen—mit einem sauberen Haushalt, mit warmem Essen, mit Bier aus dem Kühlschrank und mit deinem weiblichen Körper!"

Die „Sexemanzipation" habe sich als „Fehlkalkulation" erwiesen, meint Ritschi. Das hört sich an, als habe es eine macchiavelli-sche Gruppe von Sexemanzipato-ren gegeben, sexualwissenschaftliche „Weise von Zion", die geplant hätten, die Menschheit mit Hilfe von „Sexualisierung" zu zerstören. Wenn irgendwer „kalkuliert" hat, um den gegenwärtigen Zustand herbeizuführen, dann waren es aber weder die Sexualreformer noch die mit ihnen zusammenarbeitenden emanzi-patorischen Frauengruppen, sondern diejenigen Unternehmer, die an der Vermarktung sexueller Wünsche und Ängste mittlerweile Millionen verdient haben.

Die Wissenschaft, die ich vertrete, die empirische Sexualforschung, hat erwiesen, daß es in jeder Kultur unveränderliche Zusammenhänge zwischen dem Sexualverhalten einerseits und der Gesellschaftsstruktur, den Produktionsprozessen und dem Verteilungsapparat andererseits gibt. Wo die Nahrungsmittel knapp sind, die Produktion mühselig ist und der Verteilungsapparat schlecht funktioniert, da ver-

„In Konsumgesellschaften macht sich stets eine sexuelle Konsummentalität breit..."

langen die Sittengesetze stets, daß die Menschen möglichst wenig koitieren, ihren Samen nicht „verschwenden" und ihre Sexualität nur zur Fortpflanzung benutzen. Die Bibel, eine Geschichte armer Subsistenzkulturen, ist ein guter Beweis dafür.

In Konsumgesellschaften mit Uberflußproduktion und einer allgemeinen Wegwerfmentalität macht sich dagegen stets eine sexuelle Konsummentalität breit, ein Uberflußverhalten bei Geschlechtsverkehr und eine Wegwerfmentalität gegenüber dem Sexualpartner. Das hat nichts mit Tugend oder Untugend des Individuums, nichts mit Altruismus oder Egoismus, nichts mit Selbstbeherrschung oder Beherr-schungslosigkeit zu tun, sondern ist das unweigerliche, durch keine individuelle Willenskraft veränderliche Spiegelbild der jeweils herrschenden sozialen Werte.

Es hat sich längst in anderen Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten, herausgestellt, daß es kein billigeres Mittel gibt, die Unterjochten von den Realitäten der Unterjochung abzulenken, als sexuelle Wünsche zu erwecken und deren Befriedigung dann abwechselnd zu gewähren und zu verweigern.

Wer die heutige Porno-Industrie studiert, wer die zahllosen Annoncen für Gruppensex, Partnertausch, sadistische, masochi-stische und fetischistische Varianten des Geschlechtsverkehrs im „Kurier" und in der „Neuen Kro-

nenzeitung" verfolgt, der kann sich kaum der Vermutung erwehren, daß die neue Devise der österreichischen, Unternehmer lautet: „Sex ist das heutige Opium des Volkes. Je mehr wir ihm davon verkaufen, desto weniger politische und ökonomische Auseinandersetzungen brauchen wir zu befürchten."

Daß das Geschlechtsleben für die meisten von uns gegenwärtig in Österreich äußerst ungut ist, bestreite ich nicht Aber ich bestreite, daß es schlecht ist, weil die Sexualreformer es schlecht gemacht hätten. Statt dessen postuliere ich, daß es schlecht ist, weil die bürgerliche Gesellschaft (und mit ihr das Sexualverhalten) sich im Prozeß des Zerfalls befindet und weil an eben diesem schlechten Sexualverhalten enorm viel Geld zu verdienen ist.

Wer die Sexualmoral Österreichs verbessern will, muß als erstes helfen, die österreichische Gesellschaftsordnung zu verbessern. Das individuelle Sexualverhalten des Staatsbürgers kann nur in seltenen Sonderfällen besser sein als das kollektive Sozialverhalten der Nation.

In meinen sexualwissenschaftlichen Vorlesungen und meinen sexualreformatorischen Vorträgen des letzten Jahrzehnts habe ich bei keiner Bevölkerungsschicht so viel Zustimmung gefunden wie gerade bei katholischen (zugegeben: linkskatholischen) Gruppen. Dagegen ist meine Arbeit innerhalb meiner eigenen Partei, der SPÖ, mit verbissenem Widerstand zurückgewiesen worden.

Keine Gruppe hat sich im Gespräch so vehement gegen die Grundsätze der Sexualreform, für die ich plädiere (vor allem gegen die Abschaffung der männlichen Autokratie im Liebes- und Eheleben), gewehrt wie die organisierten Arbeiter, von denen so mancher ihrer Gegner annimmt, sie versuchten die Moral des alten, konservativen, bäuerlichen Österreichs — auch die alte Sexualmoral — mit Gewalt aus den Angeln zu heben.

Schön wär's, wenn. Nur leider ist's nicht so.

Der Verfasser ist Vorsitzender der Oster-reichischen Gesellschaft für Sexualforschung.

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