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Die sozialpolitische Geisel

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Aufgebrachte Touristen attackieren Streikende in italienischen Bahnhöfen; Handgemenge zwischen Streikenden und „Streikbrechern“ — das heißt Mitgliedern anderer Gewerkschaften, die nur ihre eigene Arbeit erledigen möchten — in Großbritannien.

Die Versorgung Englands war ernstlich bedroht, Rationalisierungsmaßnahmen mußten erwogen werden. Zugleich verfaulten leichtverderbliche Waren auf Schiffen, welche die Hafenarbeiter auch in ausländischen Häfen aus Solidarität zu ihren britischen Kollegen nicht zu löschen bereit waren. Nur Rhinozerosse konnten das Herz der Streikenden erweichen. Als eine Ladung dieser Dickhäuter eintraf, die für englische Zoos bestimmt waren, gestatteten es die Docker ihnen, festen Boden zu betreten.

Schweine hingegen erfreuten sich nicht der gleichen Gunst: auch die Gefahr von Notschlachtungen infolge von Mangel an importierten Futtermitteln rührte die Hafenarbeiter nicht. Noch weniger kümmerten sie die Streikfolgen für die Menschen, obwohl sie gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten am härtesten treffen.

Eine Frage hängt im Raum, die endlich gestellt werden muß: Gegen wen wird denn überhaupt gestreikt?

Der Streik, so haben wir gelernt, sei eine Kampfmaßnahme der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Folgen des Streiks sollen also die Unternehmer — und nur sie — treffen. Immer häufiger sind aber die eigentlichen Opfer unbeteiligte Dritte, Arbeitnehmer genauso wie die Streikenden, oft wirtschaftlich schlechter gestellte.

Wenn etwa E-Werke bestreikt werden, so läßt das die Unternehmer, die mit keiner Konkurrenz und keinen Marktverlusten zu rechnen haben, ziemlich kalt; aber die Bevölkerung hat kein Licht, die Kühlschränke und die elektrischen Heizungen funktionieren nicht, die Straßenbahnen stehen still.

Wer sind denn überhaupt im Fall der Eisenbahnen und der meisten E-Werke die Arbeitgeber? Doch der Staat, also das ganze Volk, das in seiner überwältigenden Mehrheit aus Arbeitnehmern und ihren Angehörigen besteht! Letztlich bestreiken sich also die Arbeitnehmer selbst. Und auch wo Unternehmer bestreikt werden, sind nicht sie die eigentlichen

Opfer, sondern erst wieder die Bevölkerung, durch deren Notsituation ein moralischer Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt werden soll; an Stelle des direkten Arbeitskampfes tritt immer mehr die sozialpolitische Geiselnahme.

In Schweden siebenmal mehr

Uns Österreichern mögen solche Überlegungen nicht besonders aktuell vorkommen. Spielen doch in unserer Wirtschaft die Streiks eine völlig untergeordnete Rolle. Die letztpublizierte Statistik des Internationalen Arbeitsamtes, die aus dem Jahr 1969 stammt, weist für Österreich nur ein Drittel der Streiktage von Dänemark aus, etwa ein Siebentel der schwedischen und ein Neuntel der belgischen. Norwegen und die Niederlande lagen unter den größenmäßig ungefähr vergleichbaren Staaten annähernd auf dem gleichen Niveau wie Österreich, nur die Schweiz stand mit ganzen 231 Streiktagen noch weitaus günstiger da.

Betrachten wir die Entwicklung der Streiktätigkeit in Österreich im Verlauf der Jahre, so ist eine deutlich sinkende Tendenz nicht zu übersehen. 1971 wurde sogar ein Rekord nach unten erreicht. Es streikten nur 2431 Arbeiter und Angestellte insgesamt 29.614 Streikstunden (das heißt Stunden pro Streikende). Damit wurde der bisherige Tiefststand, der 1968 mit 53.365 Stunden erreicht worden war, noch unterboten.

Diese geringe Streiktätigkeit in Österreich hat natürlich seine Gründe. Wir gehen nicht fehl, wenn wir auf eine Spezialität unseres Landes verweisen, die Paritätische Kommission, der es gelungen ist, Arbeitskonflikte weitgehend auf „Zimmerlautstärke“ zu modifizieren) sie am grünen Tisch im Verhandlungsweg auszutragen. Wenn sie auch nicht selbst die Kollektivvertragsverhandlungen durchführt, so bestimmt sie doch deren Klima und stellt die Weichen.

Diese Umpolung von Emotion auf Sachlichkeit, von Bracchialgewalt auf Argumentation hat sich bewährt — vor allem für den österreichischen Arbeitnehmer, dessen Lebensstandard auf diese Weise rascher stieg als der seiner streikfreudigen ausländischen Kollegen.

Nach Raab und Olah

Was einst als „typisch österreichisch“ belächelt wurde, hat inzwischen Nachahmung gefunden. Die deutschen Experimente mit der „konzertierten Aktion“ weisen in die gleiche Richtung, und die Briten sind heute eifrig bemüht, ein Kriseninstrument nach österreichischem Vorbild zu basteln. Allerdings sind sie damit noch nicht sehr weit gekommen.

Zu den Besonderheiten unserer „Paritätischen“, mit deren Hilfe Löhne und Preise unter weitgehender Vermeidung von Streiks „ausgeschnapst“ werden, gehört auch ihre Herkunft; ihre Väter sind ein „Denkmal“ und eine „Unperson“, zwei Gestalten, die den seither in beiden großen politischen Lagern aufgetretenen diversen Reformern (die zum Teil längst selbst wieder wegreformiert wurden) ein Dorn im Auge sind. Aber das Kind der beiden „Männer von gestern“ zeigt sich als recht lebenskräftig. Die Paritätische ist nämlich ein Produkt des heute schon fast legendären Raab-Olah-Abkommens.

Raab: das ist der letzte Patriarch der Politik, der Mann einsamer Entschlüsse, lange Zeit als Heimwehrfaschist verteufelt, sich aber später zum Staatsvertragskanzler, zum Mann des Ausgleichs sowohl im West-Ost-Konflikt als auch bei den innerpolitischen Gegensätzen mausernd, eine Persönlichkeit.

Olah: ehemaliger Austromarxist, durch das Erlebnis von Nazismus und Kommunismus zur Erkenntnis der Gemeinsamkeit aller Österreicher, der Notwendigkeit der TCooperation zwischen den Sozialpartnern gereift, ein Mann, der ausgestreckte Hände zu ergreifen bereit war.

Gerade diese ihre Herkunft ist die Stärke und Schwäche der Paritätischen zugleich: sie ist das Produkt hemdsärmeliger Politik, die nichts von Prinzipien und „Intellektuellengeschwätz“, aber alles von praktischen Lösungen hielt, die Gegensätze nicht löste, sondern aufs Eis legte, in der Hoffnung, daß sie sich mit der Zeit selbst erledigten, ein Kind der Ära der Entideologisierung. Gerade dieses Produkt der antiintellektuellen Volksmänner hat aber paradoxerweise am meisten zu einer gewissen Intellektualisierung der österreichischen Wirtschaftspolitik beigetragen; und es ist selbst ein Paradoxon als bestinstitutionalisierte Nicht-Institution, die selbst keine gesetzliche Basis hat, aber die stillschweigende Voraussetzung vieler Gesetze bildet, die keine Macht besitzt, aber doch mächtig ist, weil sie von den Mächtigen dieses Landes getragen wird.

Am Ende „zusammenraufen“

Sie ist das Kind einer Improvisation und als solches besonders ungebunden, elastisch und mobil, daher für Feuerwehrfunktionen bestens geeignet; sie ist eine Gehschule für den sozialen Frieden, ein Produkt der Überzeugung, daß es besser ist, miteinander zu reden als miteinander zu kämpfen.

Haben also wir Österreicher den Stein der Weisen für Sozialkonflikte gefunden? Das wieder auch nicht. Gerade der Umstand, daß die Paritätische ihre ganze Kraft aus dem Atmosphärischen und nicht aus dem Faktischen bezieht, ist ihre Schwäche. So lange in ihr noch jene Menschen den Ton angeben, die durch die harte Schule des österreichischen Bruderzwistes der dreißiger Jahre, des Hitlerismus und des Stalinismus gegangen sind und die daher die Prioritäten nach den Fakten und nicht nach den Ideologien setzen, solange die Atmosphäre freibleibt von Haß und Dogmatismus, solange nur in der festen Uberzeugung gerauft wird, daß man sich letzten Endes zusammenrauft, wird alles gut gehen.

Aber wird die Paritätische Kommission auch eine tragfähige Basis bleiben, wenn einmal die jungen Technokraten und Ideologen das letzte Wort haben, jene Menschen, die von ihrer ganzen intellektuellen Struktur her den Apparat und nicht die Improvisation benötigen? Die Bewährungsprobe kommt erst, wenn es den Reideologisierern einmal gelingen sollte, die aufs Eis gelegten Konflikte aufzutauen.

Für den ganzen Charakter der Paritätischen bezeichnend ist es z. B., wie sie — sehr erfolgreich übrigens

— das Streikproblem zu behandeln verstand. Auch dieses wurde nicht gelöst, sondern aufs Eis gelegt: prinzipiell sind in Österreich jederzeit die gleichen und noch ärgere Streikexzesse möglich, wie sie Großbritannien oder Italien in den letzten Jahren erlebt hat; sie finden bloß nicht statt, weil die Wirtschaftspartner von der Paritätischen Kommission her daran gewöhnt sind, miteinander zu reden und sich daher in Arbeitskonflikten und bei Lohnverhandlungen zumeist einigen, bevor es zum „heißen“ Arbeitskampf kommt.

Das heißt aber nicht, daß die Gewerkschaften auf das Instrument des Streiks verzichtet hätten; sie machen im Gegenteil sehr ausgiebig davon Gebrauch — als Druckmittel. Es heißt nur, daß die Arbeitgeber dem Druck weitgehend nachgeben und daß anderseits die Gewerkschaften die Sache nicht ganz auf die Spitze treiben und im letzten Moment im allgemeinen doch noch einlenken. Die Streikfrage ist in Österreich eben auch nur „atmosphärisch“, nicht faktisch geregelt.

Nun wären freilich — und insofern ist Österreich heute international exemplarisch — viele Länder froh, wenn sie wenigstens atmosphärisch schon so weit wären wie Österreich, weil das die Voraussetzung für faktische Lösungen bildet. Aber wir

— wie die übrigen Staaten auch — müssen uns darüber im klaren sein, daß wir auf die Dauer nicht beim Atmosphärischen stehen bleiben können, sondern Fakten schaffen müssen. Die „Industrial Relations“, die Beziehungen zwischen den Wirtschaftspartnern müssen neu geregelt und in vielen Punkten auch institutionalisiert werden.

Einer dieser Punkte ist das Streikproblem. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, zumindest die Mehrzahl der Arbeitskonflikte in fairer und zugleich effektiver Weise ohne Streiks zu bewältigen, es muß ein echtes Krisenmanagement geschaffen und auch institutionalisiert werden, das den Streik aus dem sozialen Alltag wieder herausholt und ihm seinen gebührenden Platz als ultima ratio zuweist, es müssen weiters Spielregeln gefunden werden, die den Unfug der sozialpolitischen Geißelnahme beseitigen, den Konflikt auf die betroffenen Wirtschaftspartner konzentrieren und Nachteile für Dritte verhindern oder wenigstens auf ein Minimum reduzieren.

Nur wenn das gelingt, hat die Demokratie — einschließlich der Sozialdemokratie — Überlebenschancen.

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