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Die Sphinx der Psychiatrie

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Der Wiener Psychiater Rainer Strobl fand den Schlüssel zur noch immer rätselhaften Krankheit in einer gestörten Fähigkeit, Wahrnehmung und Vorstellung zu trennen.

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Der Wiener Psychiater Rainer Strobl fand den Schlüssel zur noch immer rätselhaften Krankheit in einer gestörten Fähigkeit, Wahrnehmung und Vorstellung zu trennen.

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Ein Mensch, der in seiner Wohnung sämtliche Polstermöbel zerschneidet, sich im Winter stundenlang in den Schnee legt oder bei glühender Sommerhitze dick vermummt herumläuft, wird von seiner Umgebung schnell für „verrückt“ erklärt. Daß er selbst von der Richtigkeit und Logik seines Handelns überzeugt ist, macht die Sache nur noch schlimmer. Schizophrene verhalten sich häufig so, daß ein Sinnzusammen-

hang für die Umwelt nicht erkennbar ist. Diese Unverständ-lichkeit führt dazu, daß die meisten Menschen den Umgang mit Schizophrenen möglichst meiden. Das Stigma, das ihnen anhaftet und die daraus resultierende Isolierung verringern aber die Chance, wieder in der Realität Fuß zu fassen und ein normales Leben zu führen.

Abgesehen von ihren Symptomen und den verschiedenen Stadien ihres Verlaufes weiß man über die Schizophrenie sehr wenig. Ursachen und Zusammenhänge liegen weitgehend im dunkeln, so daß sie nach wie vor als „Sphinx der Psychiatrie“ gut. Sie wurde relativ spät (1911) als eigenes Krankheitsbild erkannt und von den übrigen Psychosen abgegrenzt.

Der Wiener Psychiater Rainer Strobl, ärztlicher Leiter des Rehabilitationszentrums für psychotisch Kranke der Caritas in Wien, hat bei einem Symposion anläßlich des 25jährigen Bestehens dieser Einrichtung („Neue Wege der Forschung und Therapie schizophrener Psychosen“) über seine Erfahrungen berichtet.

Sein therapeutischer Ansatz war das Bemühen, die Mitteilungen des Patienten zu entschlüsseln, in seine Erlebniswelt einzusteigen und auch als eine Art Dolmetsch für die Umwelt zu fungieren. Dabei stieß er auf ein Phänomen, das zwar als Kennzeichen schizophrenen Verhaltens schon bekannt war, in seiner Bedeutung aber wahrscheinlich unterschätzt wurde: den Konkretismus.

Zum Verständnis muß man sich vor Augen halten, daß das menschliche Gehirn Wahrnehmungen auf drei Ebenen verarbeitet. Sie haben entwicklungsgeschichtlich ein unterschiedliches Alter und spiegeln den kognitiven Prozeß der Menschheit wider. Auf der ältesten, primitivsten Stufe werden Informationen aller Sinnesorgane einheitlich verarbeitet. Der Reiz und die Reaktion darauf sind eine untrennbare Einheit. Auf der nächsten Stufe erfolgt die Verarbeitung der Informationen differenziert. Es ist nun möglich, Wahrnehmungen in ein Bild umzusetzen, sich einen abwesenden Sinnesreiz als Vorstellung vor Augen zu führen. Welt und Abbild können als zweierlei unterschieden, äußere Welt und innere Vorstellung einander gegenübergestellt werden. Die entwicklungsgeschichtlich jüngste Stufe kommt ohne Bilder aus und ersetzt sie durch abstrakte Begriffe und Symbole.

Daß die Erregbarkeit des Schizophrenen extrem hoch ist, macht ihn für alle Reize, die im alltägli-

chen Leben auf ihn zukommen, besonders empfänglich. Zur Aufnahme von Sinneseindrücken stehen ihm zwar sämtliche Ebenen, auf denen empfangen werden kann, zur Verfügung, zur Wiedergabe kommt aber offensichtlich eine andere Ebene ins Spiel. Es ist ihm in der akuten Krankheitsphase gar nicht möglich, sich adäquat auszudrücken, denn Empfindungen und Wahrnehmungen im Bereich des Abstrakten (jüngste Stufe) werden kon-kretistisch (älteste Stufe) wiedergegeben. Ein Schizophrener ist nicht zu bremsenden Assoziationsketten ausgesetzt („Overin-clusion“), die durch das gleiche Phänomen in Gang kommen. Mit der Hauptbedeutung eines Begriffes klingen bei ihm sämtliche Nebenbedeutungen an, auch wenn sie völlig anderen Bereichen entstammen. Das Festhalten am Konkreten (erste Stufe) kann, so Strobl, einer Unterversorgung der jüngeren Schichten entspringen, es kann sich aber auch um ei-'ne Art Schutz vor der ungefilterten Fülle der Eindrücke auf den anderen Ebenen handeln.

Der Patient, der sich in den Schnee gelegt hatte, wollte nichts anderes, als seinen „Hitzkopf kühlen“, und jener mit dem dicken Pullover im Hochsommer litt unter dem frostigen Klima in seiner Familie.

Der Bezug zum Gefühl spielt für die drei Ebenen der Wahrneh-

mung und Repräsentation eine große Rolle. Es ist nicht gleichgültig, ob man einen Unfall selbst miterlebt, mit einem Abbild davon konfrontiert wird oder einen Bericht davon hört. Trotz aller individuellen Bandbreite ist die Betroffenheit beim unmittelbaren Erleben am stärksten. Der Schizophrene erlebt das anders. Im akuten Stadium besteht für ihn kein Unterschied zwischen einer Beschreibung und der Sache selbst. Es ist ihm unmöglich, zwischen diesen Ebenen zu differenzieren, wie es etwa einem Kind

schwerfallen kann, aber möglich ist, die Welt der Vorstellung, die es sich im Spiel aufgebaut hat, zu verlassen, den Als-ob-Charakter der Vorstellungswelt zu verlassen. Diese Möglichkeit des „Umsteigens“ fehlt dem Schizophrenen. Ferne erlebt er als Nähe, Ähnlichkeit gewinnt den Charakter der Identität, Transzendentes wird materialisiert. Verfolgungswahn, Stimmen aus einer anderen Welt, denen der Patient willenlos ausgeliefert ist, sind die markantesten Symptome einer solchen Verschiebung innerhalb der Wahrnehmungs- und Repräsentationsebenen.

Umgekehrt werden konkrete Erlebnisinhalte, die das Gefühl

unmittelbar ansprechen, als ex- * trem entfernt und abstrakt empfunden. Während für einen Schizophrenen die Vorstellungswelt etwa eines Theaters beklemmende Wirklichkeit wird, an der er unmittelbaren Anteil hat, erlebt er seine Wirklichkeit gefühlsmäßig völlig unbeteiligt. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge erlaubt es dem Arzt, sich in die Welt des Patienten, in die sich dieser, unterstützt von der Reaktion der Umwelt auf sein Verhalten, immer weiter zurückzieht, einzufühlen. Das Vertrauensverhältnis, das sich daraus ergibt, erleichtert die Behandlung. Der Patient ist nicht nur eher bereit, therapeutische Maßnahmen zu akzeptieren, es lassen sich durch die „Dolmetschfunktion“ des Arztes auch belastende Situationen mildern. Die Spannungen der schizophrenen Patientin, die ihre Polstermöbel zerschnitten hatte, ließen sich auf Schwierigkeiten mit ihrem Mann zurückführen und mit Hilfe des Psychiaters durch Gespräche mildern.

Strobl sieht es als wichtigste therapeutische Aufgabe bei der Behandlung von Schizophrenen neben der Medikation an, Klarheit in ihr Leben zu bringen, alle Zweideutigkeiten zu vermeiden und eine gewisse Uberschaubar-keit herzustellen. Das Verständnis des schizophrenen Konkretismus ist ein wertvoller Beitrag dazu.

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