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Die Spur fuhrt nach Belgrad

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Man könnte glauben, es gebe doch genug Publikationen über Sarajevo 1914, über die Hintergründe und Folgen der Ermordung des österreichischen Thronfolgers. Man kennt den Streit und die Polemiken der Politiker und Fachwissenschaftler über ungelöste und unlösbare Probleme des Falles. Und: Wo findet man im geschichtslosen Denken in unserer Zweiten Republik einen Grund dafür, die Mordspur von 1914 noch einmal aufzunehmen, um Tatbestände und Verschulden der Täter sowie ihrer Hintermänner besser als bisher herauszustellen?

1971 schrieb der Linzer Ordinarius für Neuere und Zeitgeschichte, Karl R. Stadler, in englischer Sprache eine Geschichte Österreichs („Austria“, London). Stadler geht davon aus, das Attentat von Sarajevo sei für die serbische Regierung, die 1914 mit ganz anderen Problemen beschäftigt war, „a serious embarassement“ gewesen (S. 47). Und „far from being encouraged“, hätten junge Serben aus Bosnien „the very presence“ des Thronfolgerpaares in Sarajevo als „a provocation“ empfunden. „Far from being encouraged“ hätten sie auf österreichischem Boden „plotted and executed the assassination“.

Im vorliegenden Buch weist Friedrich Würthle nach, daß die Bande von Sarajewo nicht nur von Serbien aus ermutigt worden ist, sondern daß sie unter dem Kommando des Leiters des serbischen militärischen Abwehrdienstes angeworben, besoldet, im Gebrauch der Waffen geschult, instradiert und zur Mordtat kommandiert wurde. Der Autor hat als Publizist ein Leben unter Staatsmännern, Politikern und Publizisten verbracht. Er weiß, daß nicht nur Akten zuweilen lügen und daß es anderseits auf die Dauer unmöglich ist, im Politischen Dinge beschönigen oder kaschieren zu wollen. Würthle löst das Verbrechen von Sarajevo aus dem Wust der Literatur über die Kriegsschuldfrage, schreibt keine Franz-Ferdiand-Bio-graphie, sondern folgt der Spur eines Verbrechens. Dazu hat er seit 1966 an der reichen Ausgestaltung seines Sarajevo-Archivs gearbeitet.

1914 war es noch so, daß Animateure und Arrangeure politischer Morde nach erfolgreicher Tat im Hintergrund blieben. Jetzt, 1975, reklamieren allgemein bekannte und zum Teil anerkannte Urheber politischer Morde, Entführungen, Erpressungen und Zerstörungen ihre Taten per Telephon für sich. Solche Untaten werden längst nicht mehr als typisch für „balkanesische Zustände“ gebrandmarkt. Vielmehr berichten die Massenmedien, je nach ihrer Parteinahme, darüber, als wäre derlei „im Interesse der Sache“ eben oft unvermeidbar. Nach dem Mord von Sarajevo dauerte es immerhin einige Jahre, bis Urheber und überlebende Täter anfingen, mit ihren für Sarajevo verliehenen „Tapferkeitsauszeichnungen zu scheppern Das Königreich SHS hat nach 1918 dazu ermutigt. Im Jugoslawien Titos wurde für den Kommandeur der Bande, den serbischen Obersten Dragutin Dimitri-jevic, genannt Apis, im Jahre 1953 ein Schauprozeß post mortem zwecks Rehabilitierung des Helden arrangiert.

Um die Spur nach Belgrad unanfechtbar aufzuzeigen, verliert sich der Autor nicht in Details interessanter Nebenspuren. Er tut es bis zu einem gewissen Grad nur dann, wenn er das politische Klima beschreiben will, das dem Mord und den Mördern günstig war.

Da entstand zum Beispiel noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Umkreis der als seriös geltenden Londoner „Times“ das falsche Gerücht, wonach „das Attentat ein Werk der österreichischen Polizei und nicht der serbischen Propaganda“ gewesen sein soll (S. 247 ff.). Ausgestreut wurde diese Propaganda . gegen Österreich nicht von einem Winkelschreiber, sondern von Wickham Steed, bis 1905 „Times“-Korrespondent in Wien, nachher außenpolitischer Redakteur und Direktor des Blattes. Steed behauptet, er hätte angeblich aus österreichischen Regierungskreisen erfahren, Franz Ferdinand sei geisteskrank (S. 338). Und deswegen hätte man sich in Wien dieses gefährlichen Kranken und noch gefährlicheren potentiellen Herrschers entledigt. Dabei mußte das „unschuldige Serbien“ als Sündenbock herhalten. Mit derlei Informationsmethoden fing man in Kreisen der Entente den Pressekrieg gegen die Mittelmächte an, bevor der erste Schuß an der Front gefallen war.

Die internationale Freimaurerei hat bekanntlich jede Beziehung der Loge zu den Mördern von Sarajevo stets bestritten (Intern. Freimaurerlexikon, Reprint 1973, Sp. 1383). Naive Verdächtigungen, die von Pamphletisten diesbezüglich erhoben wurden, erleichterten dieses Dementi. Vladimir Dedijer („Die Zeitbombe“, Wien 1967, S. 836) hält dafür, die „Tätigkeit der Freimaurer unter den Südslawen im 20. Jahrhundert könnte für zukünftige Historiker ein interessantes Thema sein“. Er selbst widmet sich im Zusammenhang mit Sarajevo dieser Aufgabe nicht, sondern wiederholt nur oft Gesagtes oder Dementiertes. Würthle führt zu derlei Verdächtigungen der Loge aus, die Attentäter hätten sich in dem gegen sie geführten Prozeß an das Stichwort „Freimaurer als Urheber“ geradezu geklammert (S. 194). Damit hätten sie ihre Verfolger von der Spur nach Belgrad ablenken wollen. Auch in Wien hielt man höheren Orts derlei Andeutungen der Angeklagten für bloße Täuschungsmanöver, denen das Gericht nicht nachgehen sollte (S. 194). Trotzdem bleibt eine Frage in diesem Zusammenhang offen: Ob und in welchem Maße haben französische Freimaurer die Tagungen der Bande in Toulouse (1913) und Paris (1914) ermöglicht? In Paris wurde bekanntlich beschlossen, Franz Ferdinand zu beseitigen. Wer finanzierte, wer deckte in Frankreich die Auslandsaktivitäten blutjunger und mittelloser serbischer Studenten und anderer armer Schlucker?

Im Zwielicht längst verschollener Situationen wird die Persönlichkeit Vladimir Gacinovic sichtbar (S. 70 ff.). Gacinovic, Mann der ersten Stunde der Bande von Sarajevo, stand in Beziehungen zu Trotzki, Lunacarskij und Martow. Haben diese dem jungen Serben die bekannten Einwände, die russische Emigranten gegen bereits veraltete Methoden des „individuell geübten Terrors“ hatten, eingeblasen? Würthle nennt Gadinovic eine „zwiespältige und tragische Persönlichkeit“. Ob dessen schließliche Hinwendung zu „Vernunft“ anstatt „Terror“ (S. 72) eher Einflüssen der Loge als jenen linksradikaler Russen zuzuschreiben ist, bleibt ebenso ungeklärt, wie die Ursache seines „geheimnisvollen Todes in der Schweiz“ (S. 73), den Gaöinovic' 1917 erlitt. Dedijer deutet in diesem Zusammenhang mögliche „Sicherheitsvorkehrungen“ im serbischen Lager oder seitens der Loge an.

Darauf, daß Hitler 1941 bei Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion den Mord in Sarajevo auf das Konto der Bolschewiken schrieb, geht der Autor ebensowenig ein wie auf den Umstand, daß der Altbolschewik Karl Radek (nach 1937 in der Ära Stalin liquidiert) „etwas vom Geheimnis Prinzips (also des Mörders) gehört haben könnte“ (Dedijer, a. a. O., S. 826).

Quer durch die vielen Diversionsmanöver und vorgefaßten Meinungen betreffs Täter, Urheber und Nutznießer des Mordes verfolgt Würthle unbeirrt die Spur nach Belgrad. Einmal mehr stellt er die Figur des Dragutin Dimetrijevic, genannt Apis, heraus. Den Apis, seit 1911 Leiter der Terrorbande „Schwarze Hand“ und seit 1913 gleichzeitig des militärischen Abwehrdienstes Serbiens, illustriert der Autor nicht an Hand der üblich Vorgezeigten Aufnahmen des Offiziers in Galauniform, sondern mit einem Photo, das die ganze Brutalität und Wucht der Persönlichkeit des Obristen und Terroristen erkennen läßt (Bildteil nach S. 168 ff.).

Apis war auf Königsmorde spezialisiert. 1903 führte er den Stoßtrupp jener Offiziers Verschwörer, die damals ihren König und dessen Frau in einer viehischen Manier abgeschlachtet haben. Während des Balkankriegs 1912/13 war Dimitri-jevic mit Plänen für die eventuelle Beseitigung der Könige von Bulgarien und Rumänien beschäftigt. Das Jahr darauf instradierte und kommandierte er die Mörder von Sarajevo. 1917 schickte er seine Mörder nach Athen, um den bei der Entente mäßig beliebten König Konstantin I. umzubringen; einen der erfolglosen Attentäter ließ Apis nachher vorsichtshalber liquidieren.

Im selben Jahr stand Apis vermutlich hinter einem Attentat auf seinen nunmehrigen König Alexander Karadjordjevic. Alexander hatte Unterhändler in die Schweiz geschickt, um eventuell mit dem Schwager des österreichischen Kaisers ein brauchbares Friedensangebot für Serbien anzubahnen (266). Nachher schien Alexander mehrere Gründe zu haben, sich seines unheimlichen Obersten zu entledigen. Er ließ ihn zum Tode verurteilen. Apis, der als Soldat nie im Feuer war, wurde von serbischen Gendarmen erschossen.

Über Sarajevo wußte Apis so ziemlich alles. Ob der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes dieses Wissen nach dem 28. Juni 1914 seinen Vorgesetzten und seiner Regierung einfach verschwiegen hat? Da war die k. u. k. Regierung bei der Erforschung des Tatbestandes viel schlechter dran.

Lange, zu lange hat man dem damaligen Sektionsrat im k. u. k. Ministerium des Äußeren, Friedrich von Wiesner, gewisse Unzulänglichkeiten bei der Sicherung der Spur nach Sarajevo angelastet Dem hält Würthle entgegen, daß von Wiesner bei der Fertigstellung des diesbezüglichen Dossiers „eine enorme Leistung“ vollbracht hat Dazu muß man bedenken, daß von Wiesner erst nach dem 11. Juli 1914 ans Werk gehen konnte. Daß er einen ungeheuren Wust alter und neu Eingefallener Akten zu sichten hatte, um schließlich zu einem Ergebnis zu kommen, von dem Würthle feststellt, es „war in jeder Hinsicht unangreifbar“.

Aber: Wie viele der diversen Urlaubsvertreter in diversen europäischen Staatskanzleien konnten oder wollten sich angesichts der unheimlichen Geschwindigkeit, mit der nach Sarajevo die internationale Krise anwuchs, überhaupt noch mit dem 57seitigen Dossier aus Wien gründlich beschäftigen? Schon stolperten die großen Chefs in den Krieg. Gab es da in den Außenministerien der Ententemächte überhaupt noch einen Grund, auf die von der k. u. k. Regierung aufgezeigten Tatsachen länger einzugehen? War es nicht schon Gebot der Stunde, alles, was aus Wien kam, als unglaubwürdig hinzustellen, um zu dem Schluß zu kommen: Nicht die Mörder, der Ermordete war schuld (S. 252)?

Die meisten österreichischen Autoren beschäftigten sich mit dem Mord in Sarajevo im größeren Zu-

sammenhang einer Franz-Ferdinand-Biographie. Würthle schrieb keine Biographie des ermordeten Thronfolgers. Aber die bedeutende Persönlichkeit Franz Ferdinands tritt trotzdem in dem vorliegenden Werk klar zutage. Auf ideologische Erörterungen läßt sich Würthle nicht ein. In dieser Hinsicht ist Stadler (a. a. O., S. 70) aufschlußreicher. Er weist ausdrücklich auf den Punkt hin, an dem die Weltanschauung des Thronfolgers mit der seiner Feinde zusammenprallte. Die „illiberale Philosophie“, die „bigoted and reactionary nature“ (S. 45) des Erzherzogs „erwies sich als feilsch und verhängnisvoll.“ Das aber heißt: Der Thronfolger stand auf dem Boden einer religiös fundierten Weltanschauung. Er war konservativ in dem Sinn, daß er das heute mit einiger Achtung genannte Multinational Empire gegen Exzesse der nationalen und sozialen Revolution erhalten wollte. Die Bande von Sarajevo aber bestand aus Natio-nolisten, Sozialrevolutionären und Anarchisten. Unerfahrene junge Menschen, die — so Tschu En-lai — leicht zu verführen sind. Eingehend beschäftigt sich

Würthle mit eingealterten Vorwürfen, die gegen Franz Ferdinand heute noch erhoben werden. Mit der Saga von der „beabsichtigten“ Provokation der Serben am Jahrestag ihrer Niederlage auf dem Amselfeld (28. Juni 1389). Mit der Charakterisierung des Thronfolgers als „Kriegshetzer“, als „Feind aller Slawen“, als Befehlshaber einer Truppe, die im Juni 1914 nicht zwecks Manöverübung, sondern zur Verdeutlichung eines Imponiergehabens gegenüber Serbien oder Schlimmerem versammelt worden sein soll. Mag sich der Leser selbst aus den vom Autor diesbezüglich reichlich gebotenen Material sein Urteil bilden. Einige Details sollte er jedenfalls nicht überlesen:

• Da ist die am 1. Mai 1914 vom Vorstand der Militärkanzlei des Thronfolgers abgezeichnete Weisung Franz Ferdinands, wonach für das Manöver in Bosnien die Truppen „mit schlechten Friedensuniformen wie gewöhnlich“ auszustatten waren. Das Wort schlecht wurde vom Erzherzog selbst unterstrichen (Faksimile S. 52).

• Weiter: Ganze 450.000 Kronen stellte das k. u. k. Finanzministerium für das fragliche Manöver zur Verfügung. Würthle meint, dieser Betrag hätte nicht ausgereicht um auch nur gegen den kleineren serbischen Staat, gegen Montenegro, eine Stunde lang Krieg führen zu können (S. 54).

• Und, was echt kakanisch ist: Der angeblich kriegslüsterne Landesbefehlshaber von Bosnien kümmert sich vorweg darum, daß „die volle Eröffnung der Kursaison längstens am 1. Juli 1914“ in Bad Ilidza, wo das Thronfolgerpaar logierte, gewährleistet sei. Daher sollte das Manöver „nicht auf eine spätere Zeit als den 26. und 27. (Juni 1914) verschoben werden“ (S, 58).

• Schließlich: der fraglichen Invasionsarmee standen 16 Lastwagen und 171 Pferde zur Verfügung (S. 53 ff.), österreichische Manövertruppen in Stärke von 70.000 Mann gegenüber einer kriegserprobten serbischen Armee von 90.000 Mann Friedensstärke.

Wie kriegslüstern war die Monarchie 1914 nach den Vorstellungen Franz Ferdinands? Autor und Leser mögen dem Rezensenten dessen eigene Meinung nicht als pietätlos anrechnen: Wäre am 28. Juni 1914 nicht Franz Ferdinand, sondern Franz Joseph gefallen, dann hätte der neue Kaiser Franz II. mit allen Mitteln einen Krieg verhindert Vielleicht wäre der Erzherzog einer ersten Zornesaufwallung unterlegen. Einen Krieg zur Zerstörung der Welt von 1914 hat er immer vermeiden geholfen.

Am 28. Oktober 1914 wurden die Attentäter verurteilt. Wegen des Mordes und der damit verbundenen Absicht, eine „gewaltsame Angliede-rung der Gebiete Bosniens und der Herzegowina an das Königreich Serbiens herbeizuführen“ (S. 263). Damals war es bereits aus mit der Welt von 1914. Im Westen war die Marneschlacht geschlagen und im Osten verbluteten die Heere des Kaisers und des Zaren in entsetzlichen Massakern. Niemand, der die Zeit vor 1914 nicht erlebt hat, kann sie trotz nostalgischer Anwandlungen beschwören. Wer versteht, daß im Herbst 1914 Otto Bauer wegen tapferen Verhaltens vor dem Feind mit dem Militärverdienstkreuz dekoriert wurde (entsprach dem EK I)? Daß Oskar Kokoschka freiwillig zu seinen Dragonern einrückte? Daß es unter den Kriegsfreiwilligen des Deutschen Heeres nicht nur den Österreicher Adolf Hitler gab, sondern den „polnischen Juden“ Ernst Toller? Sie alle kamen aus einer „anderen Welt“. Nicht aus einer „heilen“, wie heute gefrozzelt wird, sondern aus einer anderen, die ein in Geschichtslosigkeit versinkender gewisser Typ des Österreichers nicht erkennen will.

Doch das gehört nicht zum Werk des Autors. Er bringt sein Spurenlesen zu Ende: In Belgrad.

DIE SPUR FÜHRT NACH BELGRAD: Die Hintergründe des Dramas von Sarajevo 1914. Von Friedrich Würthle. Verlag Fritz Molden, Wien 1975, 352 Seiten, illustriert und mit Faksimileabdrucken, S 298.—.

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