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Die Stadt im Lichterglanz

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Eine literarische Annäherung ans Weihnachtsfest anno 1978.

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Eine literarische Annäherung ans Weihnachtsfest anno 1978.

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Die Stadt im Lichterglanz.

Lichter-Reigen an den Geschäftspalästen, so auf der Mariahilfer Straße. Fürsorglich hat Wochen vor Weihnachten die Stadt Wien ihre Weihnachtsbäume aufgestellt, in städtischen Parkanlagen, vor der Oper. Der große Weihnachtsbaum vor dem Rathaus ist jedes Jahr das Geschenk eines Bundeslandes.

Wann beginnt Weihnachten? Die Werbung für das Weihnachtsgeschäft, „für das größte Geschäft des Jahres“, beginnt spätestens, allerspä-testens Anfang Dezember. Versandhäuser und andere mit reichen, bunten Prospekten, Prospektheften werbende weihnachtsbeflissene Unternehmen müssen natürlich ihre Propaganda-Feldzüge lange zuvor beginnen. Wie ja die Werbung für die Badekostüm-Mode des Sommers bereits mitten im Winter beginnt, „in einer kalten Nacht“.

Wann beginnt Weihnachten? Die vielen, die zur Weihnacht aus der Stadt fliehen, nein, nur kurzfristig auswandern, die Weihnachten in den Bergen oder eben an blauen Stränden in Afrika, Mauritius, Mexiko und andernorts verbringen wollen, müssen ihre Weihnachtsplanungen natürlich ebenfalls zeitgerecht abwik-keln, sonst ist kein Platz für sie in der Herberge, zur Weihnacht. Auch nicht in einem Stall. Ställe gibt es nicht viel mehr in der europäischen Alpenlandschaft, die zu einer Fremdenverkehrsindustrielandschaft umfunktioniert wurde, immer noch mehr umgebaut wird.

„Zerstörung der Alpen“: so nennen das besorgte Ökologen, die Angst haben um die Natur, um die Zerstörung der Natur.

Von der Zerstörung des Menschen, von seiner Selbstzerstörung zur Weihnachtszeit ist füglich nicht die Rede. Sie wird nicht bemerkt. Man spricht nicht von ihr. Predigten erreichen sie auch nicht.

Weihnachten! Es ist sinnvoll, daß taktvolle Gemüter und weihnachts-wünschende Unternehmen und Betriebe, auch um die Gefühle ihrer Kunden, ihrer Geschäftspartner nicht zu verletzen, „ein Frohes Fest“ wünschen. Wertneutral. Dieses „Frohe Fest“ stammt in unseren Landen aus der Eppche des Dritten Reiches, in dem „die helle Nacht der klaren Sterne“ ohne Verwendung eines Christkindes besungen wurde.

Einig sind sich heute, weltweit, alle historischen Anthropologen und verwandte Wissenschafter, die sich mit der Frühe der Menschheit, mit alten frühen Kulturen, mit Stammeskulturen und mit den großen historischen Hochkulturen der Menschheit beschäftigen: Jede dieser Gesellschaften, mag sie steinzeitnahe Züge tragen, mag sie eine tausendjährige Kontinuität wie die chinesische und ägyptische Hochkultur, mag sie, wie Jerusalem, Athen, Rom eine zumindest tausendjährige Kultur verkörpern, beruht auf ihrem Festkalender: dieser hält die Gesellschaft zusammen, er überbrückt die Krisen des Lebensjahres, Geburt, Initiation, Eheschließung, Tod, dazu Krieg und Unwetter, und eben die Krisen des Jahres - Wintersonnenwende und als kritisch erlebte Jahreszeitwechsel: eben durch das Fest.

Das Fest hält die Gesellschaft der Götter, Menschen und Tiere zusammen: in Babylon, in Alt-Rom, noch im „volksfrommen Brauchtum“ der Weihnacht im ländlichen Raum.

Ohne „Festkalender“ kann keine Gesellschaft auf Dauer bestehen. Das wußten, wissen alle wirklichen Revolutionäre: sie bemühen sich sofort nach ihrer Machtübernahme, die alten Feste in ihre Dienste zu überführen und neue Feste zu erfinden. Das wußte so die alte Kirche, indem sie sich die Feste an Ort, der Stämme, der Völker, der „Weltstämme“ (so übersetzt Martin Buber die „gentes“, die „Heiden“ der Schrift) einformt: Sol invictus. Der unbesiegbare Sonnengott: er nimmt, in der Feier, die Gestalt des jungen Mannes aus Galiläa an.

Ein Bück auf das schillernde Panorama des Feierns und Verfeierns, der Flucht in eine entrückte Weihnacht und der Flucht vor der Weihnacht, die irgendwo noch in Menschen „arbeitet“, nicht bewältigt, aus Kindertagen, ist also ein Blick auf „Austria as it is“, Österreich wie es ist (wie es im 19. Jahrhundert in einer Schrift ein Mann aus dem alten Österreich schilderte, der nach Amerika ging, Karl Postl, Charles Sealsfield, von Haus aus ein Ordensprietster aus Böhmen).

Flucht in eine entrückte Weihnacht: alle „Aktualisierungen“ der Weihnachtsfeiern in der Kirche durch Jugendgruppen, junge Pfarrer und junge, neue Gemeinden konnten diesen massiven Sachverhalt nicht ändern: „kirchliche“ Weihnacht ist, weithin, eine geschlossene Feier in einer geschlossenen Anstalt.

Die „Gläubigen“ sind „unter sich“. Die Frohe Botschaft von der Menschwerdung Gottes wird nicht verstanden als Einladung und Hilfe, die eigene Menschwerdung energisch weiterzutreiben. So wie es die Mystik verstand, deren alter Spruch meist in einer Versfassung des Angelus Silesius tradiert wurde: „Und wäre Christus hundertmal (tausendmal) geboren / Und nicht in Dir: Du wärest doch verloren.“

In die Sprache des hohen 20. Jahrhunderts überführt: der Christ kann seinen Glauben an die Menschwerdung seines Christengottes (der ja nicht ihm gehört, auch nicht der Weihnachtsgemeinde) nur bekunden durch seine eigene Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit. Durch die menschliche Qualität seines Lebens. Er kann seinen Gottesbeweis nur als Menschenbeweis führen. Dazu aber ist nötig: ein Maß Salz, ein Maß Spiritualität: Schmerzerfahrung, Schmerzbewußtsein. Erfahren an der Krippe.

Die Herkunft der Krippe und ihre geschichtliche Bedeutung ist nahezu gänzlich unbekannt in der Kirche heute: die Krippe des Franziskus wurde verdeckt, verkitscht, eingehüllt wie die Puppe des Christkindes, so wie die harten Tatsachen um Geburt, Leben, Leiden, Sterben des jungen Mannes aus Galiläa bis vor kurzem verdeckt wurden. Die Gestalt des „Erfinders“ der Krippe, des Franz von Assisi, wurde von Christen und Nicht-Christen in Kitsch, Sentimentalität eingehüllt, wie der „nackte Gott“ (eine Urerfahrung mystischer Beter) zur Christkindpuppe pervertiert wurde.

Es hatte geschichtlichen Sinn und geschichtliche Ironie, daß in Rom, im ausklingenden Triumphalismus der Ära des Papstes Pius XII., die furchtbare Leidensgeschichte des Franz von Assisi und die Leidensgeschichte seines frühen Ordens, besser, seiner engsten Freunde, ungeschminkt enthüllt wurde: auf dem X. Weltkongreß der Historiker in Rom, 4. bis 11. September 1955: so von Luigi Salvatorelli, selbst Professor in Rom, der erinnert (was die vielverfolgten Freunde des Armen von Franzisco erfuhren): „Franz von Assisi ist nach Jesus, der größte religiöse Heros des Christentums“.

Franz wurde in der Kirche gekreuzigt, ging unter in seinem Kampf für eine Friedensbewegung und eine Armutsbewegung, die seine feudale Umwelt, in Kirche und „Welt“ nicht zu akzeptieren vermochte: damals nicht, heute nicht.

Der heilige Bonaventura erwähnt in seiner offiziellen Geschichte des Franziskus dessen Testament mit keinem Wort. Als eine ungeheuerliche Demonstration baut Franziskus 1223 - Italien und das Heilige Römische Reich ertrinken in Krieg und Bürgerkrieg - die erste szenische Darstellung der Geburt Christi für die Kirche von Greccio, Giotto erinnert diese welthistorische Tat in seinem Bilderzyklus monumental.

Gegen den furchtbaren Himmelskaiser der Ostkirche, wie er in entrückter göttlicher Majestät gerade in den römischen Basiliken präsent ist, gegen den feudalen Herr-Gott, der als permanentes Jüngstes Gericht tagt, gegen die Entrückung des armen Mannes Jesus durch die Theologen in einen transzendenten Super-Himmel präsentiert hier Franziskus „den nackten Gott“: Gott als armes, schutzloses, nacktes Kind. Ein ungeheures Angebot an den Menschen: Selbstopfer Gottes. Einladung, diesem „nacktem Gott“ nachzufolgen, sich mit ihm zu vereinen: in der Bruderschaft aller Menschen.

Franziskus: „Der Herr gab mir Brüder, und niemand war, der mir zeigte, was ich tun sollte; da enthüllte mir der Allerhöchste selbst, daß ich gemäß den Evangelien leben soll“, in vollkommener Armut und in Handarbeit, in Verkündigung des Friedens: an alle Menschen. „Ich befehle allen Brüdern, bei dem Gehorsam, den sie gelobt haben, keine Privilegien bei der römischen Kurie für sich ... anzunehmen,... selbst nicht, um äußerer Verfolgung zu entgehen.“

Ich stehe also, nachdem ich langsam an den Buden des Christkindlmarktes vor dem Wiener Rathaus vorbeigegangen bin, mich erbauend an den würstelessenden Vätern und den zuckerschaumlutschenden Kleinkindern, vor den wunderschönen Krippen, die im Rathaus, in einer Ausstellung des Kulturamtes der Stadt Wien, eben das so liebliche Volkstheater präsentieren, das zumal seit dem Barock in unseren Landen nicht zuletzt diese Krippen geschaffen hat, in der die ganze Landschaft, und alle Sippen, Stände, Häuser, Bäume, Berge, Tiere die Kulisse bilden für die Krippe.

Und ich gehe hinein in die lichterhelle Stadt, in die Stadt, die verdunkelt ist durch die fiebrigen Ausbrüche der Weihnachtsneurose; seit Wochen laufen sie da, erhitzt, durch die Straßen, auf der Jagd nach Geschenken, nach Einkäufen.

Die eckigen Verpackungen stoßen hart das unschuldige Christkind, das Menschenkind, das sich seinen Weg zu bahnen sucht, auf der Kärntner Straße und überrannt wird von den Einkäufern. Entschlossene, ja verbissene Gesichter. Und stolze Gesichter, die offenkundig ihr Ziel erreicht haben: den Einkauf des Geschenkes, das den Geber legitimiert, Weihnachten zu feiern, selbst Weihnachten zu sein.

Nichts liegt mir ferner als eine Denunziation dieser Einkaufswut Selbst in ihren skurrilsten Formen bekundet diese Weihnachtsneurose ihren Kern: ein oft verdecktes Wissen, nicht mehr geben, nicht mehr sich selbst schenken zu können. Nicht mehr selbst Frieden geben zu können, statt immer wieder Frieden vom andern zu fordern. Wehmut, verdeckt, „unwissend“: nicht mehr selbst Frohe Botschaft zu sein, zu leben.

Die Gabe ersetzt den Geber. Das Weihnachtsgeschenk ersetzt, in seinen Reichtümern, in seinen Gaben, die Armut der Seele: die, wie sie - zu Unrecht - meint, nichts zu geben hat, nichts „wirklich“ zu geben hat.

So schenken die armen Reichen und die reichen Armen (seelisch armen, spirituell ausgetrockneten, seelisch blutarmen armen Seelen): indem sie ihre Gaben darbringen, da sie sich nicht zutrauen,-mehr zu geben: sich selbst. Ihr nacktes Menschsein. Den „Gott in ihrer Seele“ (wie Meister Eckhart und andere große christliche Mystiker immer wieder fordern).

Im Blick auf dieses tausendfache, millionenfältige Weihnachtsdrama, das, unbemerkt von Gebern und Beschenkten, nun von den Straßen am „Heiligen Abend“ in den Stall transponiert wird (der gerne mit Hausbar gestärkt, zumindest mit Fernsehschirm in seiner inneren Nacktheit und Armut verkleidet wird), ist nun dies noch zu sehen: jene „Amerikanisierung“ der Weihnacht, jene Karnevalisierung der Weihnacht, die sich in Österreich in den letzten Jahren ausbreitet

Weihnachten wird in Weihnachtspartys zu einer Vorfasching-Feier, wird mit den aus Deutschland importierten Faschingsgilden und Karnevalsumzügen und Faschingsgesellschaften aufgerüstet: so daß es in den Fasching inkarniert wird.

Pervertierung des Weihnachtsfestes: es wird zur ersten Inkarnation, zur ersten Fleischwerdung des Karnevals. Weihnachten also: Präsentation der Weihnachtsgeschenke am Leib der Gattin und Freundin, in Gold, Edelstein, Pelz, in inflationssicheren Gaben, in Gesellschaft der Party-Freunde.

Wie rührend muten dieser Inkarnation von Weihnachten als Faschingsparty gegenüber die besorgten Aufrufe von Ärzten in den Zeitungen an: Bitte sich nicht zu überfressen, sich nicht zu übertrinken!

Dann dies: der große Exodus. Auszug, Ausflug, Ausreise in den Wochen um die Weihnacht, um in anderem Land, am Strand und auf hoher See, und in den „himmlisch schönen“ Bergen sich selbst zu entfliehen.

Dann dies noch: das Weihnachten der Armen, der Verlassenen, der Kranken (weh dem, der zur Weihnacht ins Krankenhaus muß), der Verstörten. Wie viele dieser Einsamen und einzelnen „feiern“ Weihnacht und Jahresausklang, indem sie aus dem Leben gehen.

Weihnacht '78, in Österreich: sie bietet wirklich „für jeden etwas“: Leben und Tod, Freude und tiefes Leid. Selbstflucht in Selbstsucht, Weltflucht, Menschenflucht. Menschenflucht als verkörperte Gottesflucht.

Daneben auch dies: selige Weihnacht von Kindern. Von Menschenkindern, die mit siebzig, mit achtzig, mit fünfzig Jahren so jung, so leibseelisch jung, also plastisch, elastisch, seelisch vital sind wie Kinder von drei, vier Jahren es noch sind, hier und dort.

Diesen Kindern ist „das Königreich Gottes“ verheißen: die wahre Menschwerdung.

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