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Die Stahlindustrie im Fegefeuer

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Die Ost-Öffnung beschleunigt den Strukturwandel in Westeuropa mehr als mancher Branche lieb ist. Das muß nun als eine der ersten die Stahlindustrie erfahren.

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Die Ost-Öffnung beschleunigt den Strukturwandel in Westeuropa mehr als mancher Branche lieb ist. Das muß nun als eine der ersten die Stahlindustrie erfahren.

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Massive Überkapazitäten und die fortlaufende Substitution von Stahl durch Kunststoffprodukte lassen die Stahlkocher schon die längste Zeit kriseln. Die Subventionierung angeschlagener Unternehmen war zwar durch den schon recht betagten Vertrag zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) verboten; weil sie aber dennoch im hohen Umfang gegeben wurde, einigte man sich schon sehr bald auf einen Subventionskodex. Dieser gestattete Unterstützungen nur in Verbindung mit gleichzeitigem Kapazitätsabbau.

Diese Methode dürfte nur teilweise effizient gewesen sein: Viele Unternehmen, die kaum jemals aus den roten Zahlen kamen, wurden über lange Jahre von ihren Regierungen über Wasser gehalten. Beispiele dafür gibt es vor allem in Italien und Spanien. Lediglich in Deutschland und Großbritannien wurden in größerem Ausmaß Hochöfen stillgelegt.

Insgesamt gesehen sind der Stahlindustrie in der EG in den letzten Jahrzehnten aber massive Reduktionen der Kapazitäten gelungen: Allein in Deutschland hat sich zwischen 1974 und 1992 die Zahl der Beschäftigten auf rund 138.000 halbiert. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und durch den genannten Subventionswettlauf, durch den jedes Land den anderen die Last der Anpassung zuzuschieben versuchte, ist der Abbau aber gebremst worden.

Das rächt sich jetzt: Die wirtschaftliche Abschwächung und das Vordringen ost- und mitteleuropäischer Anbieter, die zu vergleichsweise sehr niedrigen Preisen liefern können, lassen auch diejenigen westeuropäischen Produzenten, die bis vor kurzem wenigstens noch bescheidene Gewinne erzielen konnten, an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds taumeln: Der Druck zu Werkschließungen hat sich verstärkt, in Deutschland etwa gab es im Zusammenhang mit der Stillegung der Hütte Rheinhausen massive Demonstrationen der betroffenen Stahlarbeiter.

Die Produzenten im Osten erzeugen mit wesentlich niedrigeren Löhnen. Sie verfügen aber wahrscheinlich kaum über wirklich aussagefähige Kostenrechnungen und haben auch - und das ist wirklich zu bedauern -kaum ökologische Auflagen zu beachten. Die westeuropäischen Preise können damit bei einzelnen Produkten wie einfachen Blechen und Profilen um 30 bis 40 Prozent unterboten werden.

Aber sind die Ostimporte wirklich das Problem?

Sieht man sich die Fakten näher an, muß man zu dem Ergebnis kommen, daß dem nicht wirklich so sein kann, denn die Osteuropäer haben bis jetzt in Westeuropa einen Marktanteil von höchstens fünf Prozent erobert. Mehr war nicht möglich, weil Brüssel bei Erkennen der Gefahr sehr rasch, nämlich schon im November des Vorjahres, einen Anti-Dumping-Zoll von

30 Prozent auf einzelne Produkte verhängte. Noch früher, nämlich im August 1992, waren bereits Quoten für diverse andere Produkte verfügt worden.

So scheint es, daß hier den Osteuropäern die Schuld für das Versagen der westeuropäischen Politik zugeschoben werden soll: Die Obermarktwirtschaftler in Brüssel haben, in dem sie das Subventionsunwesen im Stahlbereich zu lange tolerierten, ihre eigenen Prinzipien verraten und die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt. Vielleicht hatte man aber auch zu wenig Vertrauen in die soziale Dimension der EG, die sich bei der Unterstützung der betroffenen Stahlarbeiter hätte bewähren können.

Das Dilemma geht aber noch wesentlich tiefer: Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft Ende der vergangen Jahres in Edingburgh wurde gönnerhaft versprochen, denOsten beim Aufbau der Marktwirtschaft zu unterstützen, den Zugang für seine Produkte zu verbessern und Zölle sowie mengenmässige Beschränkung bei der Einfuhr seiner Produkte rascher abzubauen.

Die erste Probe aufs Exempel ging glatt daneben: In einer Sitzung zur Stahlkrise der für Industriefragen zuständige EG-Minister Ende Februar dieses Jahres wurden Kontingentierungen, also mengenmässige Beschränkungen, für die Importe aus dem ost- und mitteleuropäischen Ländern vereinbart. In diesen Staaten bereits getroffene Vereinbarungen zur Importerleichterung sollen auf zwei bis drei Jahre ausgesetzt werden. Damit enthält man diesen Ländern die vollmundig versprochenen Devisen vor, die sie zur Modernisierung ihrer eigenen Industrien dringend benötigten.

Auf derselben Sitzung wurde ferner über die weiteren Maßnahmen der Westeuropäer selbst im Stahlbereich beraten. Von den derzeit produzierten Rohstahlmengen (rund 130 Millionen Tonnen) möchte man in den nächsten Jahren noch zirka 30 Millionen Tonnen abbauen. Dafür haben die Minister allen Ernstes einen „freiwilligen, koordinierten Kapazitätsabbau" empfohlen. Demnach sollen die Unternehmen der Kommission bis 30. September 1993 Stillegungsvorschläge unterbreiten.

Konkrete Schließungen sollen dann mit Geldern aus dem EG-Strukturfonds sozial abgestützt werden und bis Ende 1994 durchgeführt sein. Man kann gespannt sein, welche Vorschläge da kommen werden.

Deutsche und Briten machen - wie erwähnt, nicht zur Unrecht - ihre Vorleistungen geltend. Die Franzosen fürchten das weitere Ansteigen ihrer bereits hohen Arbeitslosigkeit. Die Spanier ebenso, die darüber hinaus viel mehr Subventionsbegehren an Brüssel laufen haben, mit denen sich ihre Stahlindustrie modernisieren wollen.

Portugiesen und Griechen wiederum fühlen sich gar nicht angesprochen, weil ihre Werke ohnehin klein und für den Eigenbedarf wichtig seien. Es wird also zu dem üblichen Gerangel um Subventionen, Zuschüsse und um die Verlängerung von Schließungsfristen kommen.

Und die Österreicher? Denen geht es nicht besser: Auch die heimische Produktion wurde von der internationalen Stahlkrise erfaßt. Nachdem die VOEST noch 1990 und 1991 teils recht ansehnliche Gewinne machte, rutschte sie 1992 mit an die 800 Millionen Schilling ins Minus. Derzeit werden neuerliche Einsparungspläne diskutiert, denen weitere 2.000 Arbeitsplätze zum Opfer fallen werden.

An den Stillegungskonzepten der EG stellt man sich eine Beteiligung in zweifacher Art vor: Einerseits wurde die Bereitschaft erklärt, in einen europäischen Fonds einzuzahlen, aus dem die Kosten für die Demontage von Stahlwerken gedeckt werden soll. Nicht ganz ausgeschlossen wird aber auch die Idee, durch Stillegung einiger kleinerer Kapazitäten selbst Prämien zu ergattern.

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