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Die Stimme aus dem Exil

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Im Jahre 1935 erschien in einem Wiener Verlag die Anthologie „Der ewige Kreis“, herausgegeben von meinem Studienfreund Otto Brandt-Hirschmann — unterstützt, beraten und mit Begeisterung begrüßt von einem kleinen Kreis junger Germanisten. Denn in diesem Büchlein von knapp 200 Seiten waren nicht weniger als 40 Lyriker vertreten, von denen mehr als die Hälfte aus den Bundesländern stammte und de-

ren Gedichte ein Niveau und eine Vielfalt aufwiesen, wie es sie auf diesem Gebiet seit mindestens hundert Jahren nicht mehr gegeben hatte.

Es waren Dokumente einer lyrischen Blütezeit, die nur noch von den dramatischen und erzählerischen Meisterwerken der Jahrhundertwende übertroffen wurden.

Nach acht Themenkreisen geordnet wurde unter dem Titel „Lebendige Erde“ der erste Abschnitt mit drei Gedichten Guido Zernattos eröffnet („Die Mühle“, „Mondnachtlegende“ und „Liebesbrief an ein Pferd“), womit die vorwiegend ländliche Thematik angedeutet ist, die bei den 40 hier versammelten Dichtern durchaus dominierte.

Der heutige Leser, der solches liest, muß sich von der nationalsozialistischen „Blut- und Bo- den“-Terminologie völlig freimachen. Denn hier ging es um anderes …

Der aus einem Bauernhaus in Treffen bei Villach stammende hochgewachsene junge Mann, der früh zu dichten begann, hat erst mit 30 Jahren sein erstes Gedichtbuch erscheinen lassen, sich aber in den verschiedensten Berufen getummelt und dabei eine reale Weltkenntnis erworben. Nach der Teilnahme an den Kärntner Abwehrkämpfen trat er in eine Holzhandelsgesellschaft ein, holte die Matura nach, inskribierte an der Wiener Universität, hatte 1930 einen deutschen Lyrikpreis erhalten, gab die „Kärntner Monatshefte“ heraus, wurde Vizepräsident des österreichischen Bundesverlages und trat als Staatsse

kretär, später als Minister in die österreichische Bundesregierung, der er von 1936 bis 1938 angehörte.

Sein Fluchtweg nach 1938 führte ihn zunächst nach Paris, wo er „Le Dossier de l’Europe Centrale“ und „Die Wahrheit über Österreich“ schrieb. 1940 landete er in New York und erhielt einen Forschungsauftrag über das Nationalitätenproblem. Zu den vorhandenen Gedichten kamen hier nur noch wenige, so daß die erste in Klagenfurt erschienene Gesamt-

ausgabe von 1950 nicht mehr als 85 Gedichte enthielt.

Zernatto war weder ein politisierender Dichter noch ein dichtender Politiker. Trotzdem erfüllte er in seinen Gedichten ein „kulturpolitisches Programm“, das einer „geistigen Neubesiedelung Wiens von den Alpenländern her“, wie es Hans Brunmayr, der beste Kenner seines Werkes und Herausgeber des Auswahlbändchens „Kündet laut die Zeit“ in der Stiasny-Bücherei, definiert hat.

Von der Weite seines Horizonts zeugen zahlreiche Aufsätze und Studien, so die mit dem Titel „Kultur“, in dem der Autor „Kultur“ definiert als „die Versuche der Menschheit“ sich mit irdischen Mitteln zu erlösen. Oder der über „Ersatzreligionen“, als welche Zernatto erkennt: die Musik, insbesondere der Wagner-Kult, die Psychoanalyse und der dogmatische Materialismus…

Dieser bedeutendste christlichkonservative Lyriker seiner Generation starb vor vierzig Jahren, am 8. Februar 1943, in New York. Eines seiner letzten und bewegendsten Gedichte beginnt mit den Worten „Dieser Wind der fremden Kontinente — bläst mir noch die Seele aus dem Leib“. Zernatto starb an Heimweh nach Österreich. Sein Erbe betreut seine Witwe Riccarda, geborene Weidenhaus, die er 1931 geheiratet hatte.

Im Sommer dieses Jahres soll eine Gesamtausgabe seiner Dichtungen erscheinen.

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