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Die Stunde der Gerechtigkeit

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Ein Besuch meiner Heimatstadt und ein Gespräch mit einem Schulfreund, den ich fast vier Jahrzehnte nicht gesehen hatte, konfrontierten mich mit einem Thema, das mich mit einem Entsetzen erfüllte, wie ich es so lange nach dem Kriege nie erwartet hätte.

Ich bin im jugoslawischen Teil des Banats geboren, in Großbetsch-kerek, das heute Zrenjanin heißt. In der Schule konnten wir alle mindestens serbisch, ungarisch und deutsch, meist auch etwas slowakisch und rumänisch. Uns interessierte nicht, wer Serbe oder Kroate, wer Donauschwabe, Jude, Ungar oder Zigeuner war. Nach dem Einmarsch der deut-

sehen Truppen im April 1941 wurden meine Eltern und Großeltern, fast alle meine Verwandten und viele Freunde verschleppt und ermordet. Als ich aus dem KZ zurückkehrte, wußte ich zwar, daß nun „die Deutschen“ in Lagern waren, aber es interessierte mich nicht besonders. War ich so abgebrüht? Ich kann mich nicht erinnern, daß ich an Rache interessiert war. Wahrscheinlich wollte ich als Siebzehnjähriger einfach nur leben.

Viel später erzählte mir mein alter Freund, er habe selber an der Verhaftung deutscher Frauen teilgenommen. Und wir bedauerten, daß augenscheinlich jetzt, so viele Jahre danach, die jüdische und deutsche Kultur in unserer Heimatstadt fehle. Aber jetzt war ich alt genug, um darüber nachzudenken. Die Behandlung der Donauschwaben war in Jugoslawien lange ein Tabu. Ich kam zum Schluß: Ich als ihr Opfer sei dazu berufen, diese Angelegenheit zu untersuchen. Zwar gibt es über dieses Thema viel Literatur auf der deutschen Seite. Eine Untersuchung der bundesdeutschen Regierung ist meines Wissens nie veröffentlicht worden. Von jugoslawischer Seite indessen wurde bisher dazu noch nie etwas gesagt.

Vor dem Krieg hat ungefähr eine halbe Million Deutscher in Jugoslawien gelebt. Etwa 30.000 Männer sind als Soldaten, SS-Leute oder Polizisten gefallen oder verschollen. Nach meinen Berechnungen sind etwa 62.000 Menschen deutscher Nationalität zwischen dem Herbst 1944 und dem Frühjahr 1947 ums Leben gekommen, die Mehrzahl von ihnen kleine Kinder und Greise in Lagern, manche sind jedoch auch sofort nach dem Einmarsch der jugoslawischen Partisanen und der Russen getötet worden. Einige Hochrechnungen deutscher Autoren nennen noch höhere Zahlen, aber jedes einzelne unschuldige Opfer ist eine für mich ungeheure Schande.

Und es waren Unschuldige. Die

Kriegsverbrecher - und es gab viele Kriegsverbrecher unter meinen deutschen Landsleuten - waren ja alle rechtzeitig geflohen. Über 300.000 Donauschwaben waren in Trecksr so wie sie Goethe in „Hermann und Dorothea“ beschreibt, schon im August und September 1944 in Richtung Österreich und Deutschland gezogen, unter ihnen bestimmt alle, die Rache oder Sühne zu fürchten hatten.

Ein Beispiel aus meiner Heimatstadt: da lebten vor dem Krieg zwei Brüder namens Keks. Der Studienrat Keks war ein begeisterter Nazi, gehörte sofort zur Besatzungsmacht, verkehrte mit den Spitzen der Gestapo. Er floh selbstverständlich. Sein Bruder, der Rechtsanwalt Keks, unterhielt Beziehungen zum Untergrund, teilte den Partisanen Wissenswertes mit, war so-

gar einige Monate vor der Befreiung Mitglied des illegalen „Volksbefreiungsausschusses “. Selbstverständlich blieb er. Er wurde am zweiten Tag nach der Befreiung unserer Stadt umgebracht-nur weil er Deutscher war.

Ich habe mit Frauen gesprochen, die als Kinder in Lagern waren. Hier nur ein Zitat:

„Der Friedhof dort war im Sumpfgebiet. Und das Grundwasser ist langsam gestiegen. Die Leichen wurden in Decken und Fetzen gewickelt, bis man sie beerdigen konnte, aber die Ratten, die ja auch hungrig waren, haben die Leichen angeknabbert. Da fehlten manchmal die Füße und Hände. Ich habe noch heute Angst vor Ratten. Meine Freundin Barbara, die sang sehr schön, ich sehe sie noch vor mir, sie war in meinem Alter, sie lag da

eingewickelt und ihr fehlten schon die Zehen...“

Die Frau, die mir das erzählte, ist heute fünfundfünfzig Jahre alt, Bürgerin der Bundesrepublik, dienstlich für ihre neue Heimat in Jugoslawien, in einem Land, das sie weiterhin und trotz allem liebt. Ich mußte ihr über meine Erlebnisse in deutschen Konzentrationslagern berichten. Die Stimmlage, in der wir darüber sprachen - ich habe es auf einer Kassette aufgenommen -ist, als tauschten wir Ferienerinnerungen aus.

Soll man nun eine Rechnung aufmachen und sagen, selbstverständlich waren Auschwitz, Buchenwald und Dachau unvergleichlich schrecklicher als die jugoslawischen Lager Molidorf oder Ga-kovo? Was nützt das der Barbara,

die schön gesungen hat und zwölfjährig verhungert ist?

Ich habe auch mit jugoslawischen Politikern gesprochen, die schon damals in Amt und Würden waren. „Ja“, sagte mir einer von ihnen, damals Gebietssekretär der kommunistischen Partei für den Banat, „die Läger waren schrecklich, ich habe einmal im Winter 44/45 das ganze Kommandopersonal eines Lagers an die Front geschickt.“ Ein anderer, zu jener Zeit Polizeioffizier, erzählte: „... und dann sind viele Deutsche umgekommen.“ „Was heißt umgekommen?“ fragte ich. „Nun, umgebracht worden sind sie“, antwortete er seelenruhig.

Die meisten Mittäter und Mitwisser von damals bestehen auch heute noch darauf: „Nach allem, was sie getan hatten, war mit den Deutschen kein Zusammenleben mehr möglich!“ Freilich nennt man den Hungertod der Kinder eine Schande. Oder man will an die Tatsache nicht glauben.

Die vielen Tonkassetten und die Hunderte Seiten von Aufzeichnungen muß ich noch ordnen, um einen vollständigen Bericht zu schreiben. Ich werde das Thema außerdem auch literarisch bearbeiten.

Es bleibt die Frage: Habe ich die verhungerten Kinder, die gestorben sind, weil sich jemand auch für mich rächen wollte, auf dem Gewissen?

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