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Joseph Zoderer: Die Suche nach der Grenze

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Nach der Bedeutung der Grenzen - der geographischen und der geistigen - fragte der 50. PEN-Kongreß in Lugano. Nachstehend die Antwort des Südtirolers Joseph Zoderer.

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Nach der Bedeutung der Grenzen - der geographischen und der geistigen - fragte der 50. PEN-Kongreß in Lugano. Nachstehend die Antwort des Südtirolers Joseph Zoderer.

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Ich bin in der Nähe nicht einer Grenze, ich bin in der Nähe vieler Grenzen geboren, aber ich bin nicht dort aufgewachsen, meine Kindheit war behütet, auch wenn Bomben ringsum explodierten und wir viele Schulstunden im Luftschutzkeller verbrachten, meine Kindheit war abgesichert von der Eindeutigkeit eines einzigen Sprachgebiets, ich wuchs in der österreichischen Provinz des Dritten Reichs auf, fern von meinem Geburtsort Meran, ich wuchs in der Illusion heran, daß der Ort, wo meine Eltern ihre erste Emigrations-Wohnung fanden, mir gehörte als Welt, als vertrauter Anfang der Welt, erst später wurde mir klar, daß dieser Ort ganz und gar nicht mein Besitz war, daß er geographisch und politisch nichts zu tun hatte mit meiner Heimat, und ich begriff, daß meine Heimat etwas Fremdes war, weit weg von mir und meinen Spielgefährten, und ich begann etwas zu lernen, das ich gar nicht wollte, ich begann mich nach der Fremde zu sehnen, nach der fremden Heimat meiner Eltern.

Ich war ein Auswandererkind und darüber hinaus das Kind von Eltern, die zwischen der Geburtsheimat und ihrer Sprache hatten wählen müssen, ein politisch vertrackter Akt, den die Weltgeschichte am Rande der Banalität inszenierte, eine Absprache zwischen Hitler und Mussolini, und eine Folge davon war die Option in Südtirol, die ein österreichisches Gebiet italienisch machen sollte, Hitlers Geschenk für dessen Komplicentreue.

Der Propaganda vertrauend, haben meine Eltern die Heimat verlassen, um ihre Sprache zu retten, oder sie hatten die Heimat verraten, um nicht eine fremde Sprache lernen zu müssen. Oder soll ich sagen, sie haben ihre Sprache in Sicherheit gebracht und dabei ihre Heimat verloren?

Ich könnte-sagen, daß ich mich im Ausland als Mensch gefühlt habe mit seiner ihm zugewachsenen Sprache, so gewöhnlich normal wie alle Leute, die ich kannte. Ich hatte als Kind keine Grenzprobleme, ich hatte keine Identitätsprobleme als Kind, ich fühlte mich als Österreicher wie irgendeiner meiner Freunde, die tatsächlich auch dort geboren waren, in Graz oder in Wien.

Ich habe nie an einer geographischen Grenze gelitten, ja, natürlich — unter den Formalitäten mit Zollbeamten et cetera, diese internationale Stammtischmentalität, diese bürokratische Vernei nung der zivilen Freiheit — aber ich habe dies alles hingenommen, mit gelernter Unterwürfigkeit, in Wirklichkeit war meine Grenze eine andere — die Grenze von jedermann—, diese Frustration: wenig oder vieles nicht zu haben, die simple Begrenztheit.

Der Zweifel, die Unsicherheit, die Unzulänglichkeit, dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit von jenen, die es wissen — die Skepsis dagegen, das Fragliche, das immer Fragen gebiert -, das war und ist für mich noch immer eine Existenzmetapher, ein Bewußtsein von Grenze, das quer durch mich hindurchläuft, mein alltägliches Gewecktwerden. Grenzen sind fast immer Ärgernisse, Ursache von Mißverständnissen, eine Art Signallinie des Andersseins.

Von außen ist die Grenze auf mich zugekommen, diese Grenze hat sich mir angenähert und ist allmählich zu meiner Pflicht geworden. Die Grenze könnte eine Zone der Stagnation sein, eine Todeszone. Sie ist es nicht — schon gar nicht die mitteleuropäische.

Gibt es eine mitteleuropäische Grenze? Daß sie schwer feststellbar ist, macht sie lebendig. Joseph Roth hat (ich glaube, im Roman „Kapuzinergruft“ ) mit provokativer Liebe zu Mitteleuropa gesagt (ich zitiere sinngemäß), daß Österreich von den Rändern lebt.

Ich bin für das Wissen von der Wurzel oder von den vielen Adern unter der Oberfläche unserer oft als langweilig erlebten Gegenwart. Ich bin für die Wurzeln, aber nicht für das Verwurzeltsein, ich bin für das Bewußtsein, nicht für die Bewußtlosigkeit, ich bin nicht für den wurzellosen, bindungslosen, traditionslosen Kosmopoliten, ich bin für Farbe, Verschiedenheit, Diversitä, für Eigenheit, aber nicht für Sturheit und schon gar nicht für stammtischgemütliche Arroganz der Ignoranz.

Ich fühle mich als Südtiroler, als deutschschreibender Autor mit italienischem Paß nicht an den Rand gedrängt, ich fühle mich in Europa, in Tirol, in Italien, eine Stunde entfernt von Österreich; über Telefon, Radio und Fernsehen mit der sogenannten Welt verbunden; ich reise sitzend, ich vagabundiere, während ich unter dem Dach eines Hauses am Berg schreibe. Ich werde informiert, ich schaue auf das Gras im Aprilregen. Vor einem Jahr war Tschernobyl, und heute ist es für uns diese andauernde negative Gewißheit geworden. Was heißt da Grenze? Welche Bedeutung hat die Grenze des mitteleuropäischen, des mediterranen Raumes?

Was bleibt (wenn etwas bleibt), sind die Stärke und die Schwäche der Kultur; wofür wir leben — scheiternd oder mitgeschleppt in der Zeit. Es ist die Kultur, die wir schaffen, die wir leben oder versęhlafen. Es gibt eine Vor-Tschernobyl- und eine Nach-Tschernobyl-Kultur, so wie es eine Vor-Auschwitz- und eine Nach-Auschwitz-Kultur gibt. Vieles an Tradition magert ab und erhält zugleich doch auch neue Gewichte. Denn wir wollen ja weiterleben, trotz Auschwitz, trotz Tschernobyl, trotz Aids und anderem Terrorismus. Aber wo ist da die mitteleuropäische Grenze?

Solange wir leben wollen, ist auch das Zusammenstecken unserer Köpfe in der Todesangst ein Akt von Kultur - ich glaube, daß ein zu Tode Verurteilter ein schöpferischer Mensch ist, wenn er den tödlichen Schlag des Henkers oder den Knopfdruck erwartet. Ich glaube, däß unser Denken heute notwendig ein Wissen von der Grenze geworden ist, ein Wissen vom schwankenden Grund, auf dem wir im Kreise gehen oder erschrocken innehalten oder uns aufeinander zubewegen.

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