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Die Technokrate hat politische Folgen

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„Der Mensch in der unvollkommenen Gesellschaft“ lautet das Generalthema, das heuer beim Europäischen Forum in Alpbach zur Diskussion steht. Auf den ersten Blick scheint es nicht vielmehr zu enthalten, als die etwas anspruchsvollere Version eines Gemeinplatzes. Denn: Wer oder was ist schon vollkommen in dieser unserer augenscheinlich so unvollkommenen Welt?

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„Der Mensch in der unvollkommenen Gesellschaft“ lautet das Generalthema, das heuer beim Europäischen Forum in Alpbach zur Diskussion steht. Auf den ersten Blick scheint es nicht vielmehr zu enthalten, als die etwas anspruchsvollere Version eines Gemeinplatzes. Denn: Wer oder was ist schon vollkommen in dieser unserer augenscheinlich so unvollkommenen Welt?

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Offenbar ging es jedoch den Veranstaltern gar nicht in erster Linie um die wohl unbestreitbare Tatsache gesellschaftlicher Unvollkommenheit, als vielmehr um deren Negierung durch bestimmte politische Ideologien im Dienste totalitärer Herrschaftsinteressen. Der eigentliche Hintergrund des heurigen Generalthemas ist also jene Kritik des ideologisch-politischen Totalita-rismus, wie sie erstmals von Karl Popper in seinem Werk „Die offene GeseUschaft und ihre Feinde“ vorgetragen und neuerdings wiederum von einigen Vertretern der „Neuen Philosophie“ in Frankreich aufgegriffen wurde.

Man brauchte die Tatsache der unvollkommenen Gesellschaft nicht eigens zubetonen, wenn nicht die Kontrastidee der vollkommenen Gesellschaft in der menschlichen Geschichte eine so unheilvolle Rolle gespielt hätte, sagte der wissenschaftliche Hauptberater des Europäischen Forums Alpbach, Professor Hans Albert, in seinem Einführungsvortrag.

Mit Recht wies Albert darauf hin, daß die Form, in der die Idee der vollkommenen Gesellschaft in unserem Kulturbereich wirksam geworden ist, wesentlich religiös-theologischer Natur ist und in der jüdisch-christlichen Eschatologie ihre Wurzel hat.

Die vollkommene Gesellschaft, um die es hier geht, sei gewissermaßen das Reich Gottes auf Erden - die Wiederkehr des Paradieses, wie sie etwa der unlängst verstorbene protestantische Religionshistoriker Ernst Benz im Rahmen des 8. Salzburger Humanismusgespräches geschüdert hat.

Wichtig sei, daß diese religiösen Ideen einer auf die nähere oder fernere Zukunft bezogenen Endzeiterwartung nicht nur in der Phüosophie wirksam geworden sind, sondern auch in der Politik ungeheure Wirkungen gezeitigt haben, und zwar über die totalitären Bewegungen rechter und linker Coleur, die sich auf sie - wenngleich unter Preisgabe ihres ursprünglich religiösen Gehaltes

- berufen.

Die Idee der vollkommenen Gesellschaft, wie sie heute in verschiedenen Versionen präsentiert wird, ist

- so Albert - „Ausfluß einer säkularisierten religiösen Vorstellung, die Idee eines Reiches Gottes auf Erden, wenn auch in atheistischem Gewände, ein Reich, in dem der Mensch erlöst ist von allem Ube\“.

„Keine Angst vor Utopien!“ war demgegenüber der Grundtenor der Standortbestimmung des Generalthemas durch den Soziologen Professor Peter Atteslander, der sein in manchen Ohren wohl recht befremdlich klingendes Plädoyer für die Notwendigkeit und Unentbehrlich-keit utopischen Denkens mit der These begründete, daß keine Utopie eine vollkommene Gesellschaft zum Ziel hätte, selbst wenn der Autor vorgebe, eine solche zu beschreiben.

Die gemeinsame Funktion von Utopien bestehe vielmehr darin, daß sie allesamt dazu aufrufen, jeweils bestehende Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Utopien seien allenfalls Wegweiser, niemals aber der Weg selbst.

„Unvollkommenheit als Chance“ hatte Atteslander seinen Vortrag betitelt. Die Frage ist jedoch, ob und inwieweit menschliche Unvollkommenheit im Hinblick auf die immer komplexer werdenden Strukturen unserer technologischen Gesellschaft überhaupt noch eine Chance hat; ob unter den Bedingungen eines immer weiter vorangetriebenen wissenschaftlich-technischen Perfektionismus menschliche Fehlbarkeit, menschliches Versagen - man denke etwa an die Kernenergie! - nicht ein unmittelbares Sicherheitsrisiko darstellen, das mit allen Mitteln, das heißt auch mit jenen staatlicher Zwangsgewalt, ausgeschaltet werden muß.

Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang bereits unverblümt von der drohenden Gefahr eines „Atomstaates“. Das mag zwar übertrieben sein, enthält aber doch einen wahren Kern. Dieser besteht darin, daß der politische Totalitarismus heute keineswegs mehr ausschließlich von totalitären Ideologien und Führungssystemen ausgeht, sondern einer bestimmten Form des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes selbst immanent ist und der Vermittlung durch totalitäre Ideologien gar nicht mehr bedarf.

Daß die Technokratie auch bestimmte politische Konsequenzen haben wird, liegt auf der Hand, wenngleich deren volle Tragweite durch den demokratischen Mehrheitskonsensus heute noch weitgehend verdeckt wird. Die treibende Kraft ist hier zweifellos das wachsende Bedürfnis nach immer mehr Sicherheit, das seinerseits wiederum durch die immer größer werdenden Gefahren und Risken des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bedingt wird, doch dieses wachsende Sicherheitsbedürfnis hat seinen Preis, der eindeutig zu Lasten der Freiheit geht. Atteslander sprach in diesem Zusammenhang von einem sich ständig verschärfenden Antagonismus zwischen Sicherheit und Freiheit.

Ebenso gut kann man, wie dies Professor Norbert Leser tat, von einem Gegensatz zwischen Etatismus und Anarchie sprechen. In der Tat sind Etatismus und Anarchie die beiden extremen Pole, in denen sich heute die Krise der politischen Systeme in Ost und West gleicherweise manifestiert. Hatte einst Karl Renner die Entwicklung des modernen Staates auf die schlagwortartige Formel „vom liberalen zum sozialen Staat“ gebracht, so wird heute dieser „Daseinsvorsorgestaat“, wie ihn Ernst Fortshoff treffend genannt hat, immer mehr zum technischen Staat.

Leser erwartet sich von ihm eine weitere beträchtliche Zunahme etati-stischer Tendenzen, die ihrerseits wiederum anarchistische Gegenbewegungen auf den Plan rufen. Ob unser gegenwärtiges System der repräsentativen Demokratie diesen neuen Herausforderungen gewachsen sein wird, werde nicht zuletzt davon abhängen, ob es den etablierten Parteien gelingt, die berechtigten Anliegen engagierter, jedoch parlamentarisch nicht repräsentierter Gruppierungen, wie der „Neuen Linken“ und der „Grünen“, aufzugreifen.

Andernfalls könnte es sehr wohl sein, daß jener demokratische Grundkonsensus, von dem Ralf Dahrendorf im vergangenen Sommer in Alpbach gesprochen hat und der heute noch auf die Unterstützung durch rund drei Viertel der Wähler rechnen kann, abzubröckeln beginnt.

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