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Die totale Freizeit - oder?

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Mit Beginn des nächsten Jahres tritt in Österreich die 40-Stunden-Woche in Kraft, 1977 soll für alle Arbeitnehmer in Österreich die Mindesturlaubszeit vier Wochen betragen. Arbeiterkammerpräsident Hrdlicka erklärte nunmehr, daß die Arbeiterkammer für weitere Arbeitszeitverkürzung eintritt. Der Witz, in dem ein Gewerkschaftsfunktionär sich so stark in eine Versprechens-Euphorie vor versammeltem Publikum hineinsteigert, bis er ruft, daß die Arbeitnehmer bald nur noch am Mittwoch arbeiten werden, und ein Hinterbänkler fragt, ob wohl jeden Mittwoch, scheint sich zu erfüllen. Die Frage ist bloß, ob damit eine soziale Großtat gesetzt wird, ob auf diese Weise tatsächlich individueller und gesellschaftlicher Wohlstand maximiert wird.

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Mit Beginn des nächsten Jahres tritt in Österreich die 40-Stunden-Woche in Kraft, 1977 soll für alle Arbeitnehmer in Österreich die Mindesturlaubszeit vier Wochen betragen. Arbeiterkammerpräsident Hrdlicka erklärte nunmehr, daß die Arbeiterkammer für weitere Arbeitszeitverkürzung eintritt. Der Witz, in dem ein Gewerkschaftsfunktionär sich so stark in eine Versprechens-Euphorie vor versammeltem Publikum hineinsteigert, bis er ruft, daß die Arbeitnehmer bald nur noch am Mittwoch arbeiten werden, und ein Hinterbänkler fragt, ob wohl jeden Mittwoch, scheint sich zu erfüllen. Die Frage ist bloß, ob damit eine soziale Großtat gesetzt wird, ob auf diese Weise tatsächlich individueller und gesellschaftlicher Wohlstand maximiert wird.

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Vor wenigen Jahrzehnten noch war es ein Zeichen von vornehmem Lebenswandel, Reichtum und auch Macht und Einfluß, dem Müßiggang zu huldigen. Das gewöhnliche Volk war dagegen dazu verdammt, ziwölf und mehr Stunden zu arbeiten, um’ oft nur die existentiellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Die Zeiten haben sich geändert. Die Freizeitprivilegierten unserer Tage sind die Arbeiter und Angestellten in der Industrie, die Benachteiligten sind dagegen die selbständig Erwerbstätigen und die moderne Elite der Manager. Zugleich hat sich auch die Einstellung der öffentlichen Meinung zu den Freizeitprivilegien gewandelt: es güt heute allen Anstrengungen zum Trotz als Schick, gehetzt, streßgeplagt, überlastet zu sein und als eher gewöhnlich, über viel Freizeit zu verfügen. Wer viel Zeit hat, dessen Arbeitsleistung ist nicht gefragt; wer dagegen wenig Freizeit hat, ist „in”.

Nicht nur dieser Wandel in der öffentlichen Meinung wirft die Frage auf, ob es tatsächlich politisch und ökonomisch vernünftig ist, sozialpolitisches Heil in der Minimierung der Arbeitszeit zu suchen. Eine Politik, die noch immer von allen Arbeitnehmergruppierungen in allen Parteien mit großer Intensität verfolgt wird.

Der mit den Problemen der Freizeitökonomik vertraute Innsbrucker Wirtschaftswissenschaftler Professor Clemens Andreae vertritt die Auffassung, daß die „totale Freizeit” durchaus möglich wäre. Würden wir uns heute, schreibt Andreae, mit dem Lebensstandard um die Jahrhundertwende zufriedengeben, so müßten wir wöchentlich nur noch fünf Stunden arbeiten. Die Menschen in den hochindustrialisierten Staaten haben sich anders entschieden, steigenden Wohlstand um den Preis allmählich sinkender Arbeitszeit erkauft.

Gerade in der Wirtschaftswissenschaft sind Spekulationen über die Zukunft ein allseits beliebtes Spiel. Gelegentlich wird dabei auch die Meinung vertreten, daß wir uns der „totalen Freizeit” mit Riesenschritten nähern. In diesen höchst spekulativen Prognosen werden die Wachstumsraten der Einkommen extrapoliert und zugleich eine fortschreitende Automatisierung der industriellen Produktionsverfahren unterstellt. Geradezu zwangsläufig ergibt sich daraus der Schluß, daß in nicht allzu ferner Zukunft die Industriegesellschaft eine Metamorphose durchmacht und als „Freizeitgesellschaft” fortlebt. ,

In diesen Prognosen werden wichtige Zusammenhänge nicht berücksichtigt. Steigender Wohlstand wird auch in fernster Zukunft ohne steigende Arbeitsproduktivität undenkbar sein. Steigende Arbeitsproduktivität wiederum kann nicht aus dem Nichts erfolgen. Die Automaten, die sie besorgen sollen, müssen erfunden, entwickelt und schließlich auch betrieben werden. Dazu ist in jedem Fall Arbeitseinsatz notwendig. Wahrscheinlich wird sich dieser Arbeitseinsatz von der manuellen auf die geistige Ebene verschieben, aber auch hier gibt es Grenzlinien, die dort liegen, wo Knöpfe betätigt und Reparaturen vorgenommen werden müssen.

Ebenso wichtig sind die Überlegungen, die Probleme des Rohstoffverbrauches und des Umweltschutzes in die Freizeitproblematik einbeziehen. Knappe und teure Rohstoffe verlangen eine Änderung der Beziehung zwischen den Rohstoffen und ihren Verbrauchern. Wahrscheinlich wird das zeitsparende Wegwerfen der Emballage wieder aus der Mode kommen. Das vielzitierte Recyling der Rohstoffe, also die Rückgabe der Bierflasche und des Zeitungspapiers an die Produktion, sind äußerst zeitraubende Tätigkeiten. Ebenso müssen die steigenden Preise für Rohstoffe aus (steigendem?) Arbeitseinsatz finanziert werden. Erst recht gilt dies für die Kosten des Umweltschutzes, der, würde er nicht betrieben, ein Mehr an Freizeit sinnlos machte, weil Freizeit kein Wert für sieh ist, sondern ein Mittel zur besseren Lebensgestaltung sein soll. Freizeit ohne die Möglichkeit, sie zur Erholung in ozonreichen Wäldern oder an reinen Badeseen auszukosten, wäre Selbstzweck.

Freizeit ist Konsumzeit. Die allermeisten Konsumgüter — sieht man von der Zigarette ab —1 sind nur in der Freizeit verbrauchbar. Dabei ist zu berücksichtigen, daß man eine Vielzahl von Konsumgütern braucht, um Freizeit zu gewinnen (Waschmaschine, Geschirrspüler, Tiefkühltruhen, elektrische Zahnbürste usw.) und daß man zugleich bestimmte Güter braucht, um die Freizeit richtig zu genießen. Das wichtigste dieser Güter ist das Dienstleistungsangebot. Dabei sind Rationalisierungsmaßnahmen nur begrenzt möglich: wir sind mehr denn je auf gutes Service in den Restaurationsbetrieben aus, konsumieren mit Vorliebe oft sehr arbeitsintensive Kulturproduktionen, sind oft nur mit Hilfe eines hochqualifizierten Wartungspersonals in der Lage, im hochtechnisierten Eigenheim zu überleben. Mehr Freizeit schafft demnach automatisch eine höhere Nachfrage nach Dienstleistungspersonal.

Mehr Freizeit erfordert aber erst recht höhere Investitionen. Alles, was wir in der Freizeit erleben wollen, die Autofahrt ebenso wie das verlängerte Wochenende im Freizeit - zweitheim, muß erst produziert werden: mehr und sichere Straßen, besser angelegte Waldwege, noch komfortablere Beförderungsgelegenheiten im individuellen und Massentransport, das alles erfordert hohe Investitionen etwa in die Infrastruktur.

Diese wenigen und nur oberflächlich behandelten Zusammenhänge machen klar, daß die Hoffnung auf die „totale Freizeit” nur ein Traum ist, von dem niemand mit Sicherheit sagen kann, ob dieser Traum nicht gar ein Alptraum sein muß. Es ist zu bezweifeln, d,aß sich das Individuum und eine Gesellschaft in der „totalen Freizeit” auch tatsächlich wohl fühlen können. Das Schönste am Dolce- farniente ist die Freude darauf und die Erinnerung danach. Dazwischen liegt eine Phase, mit der wir oft wenig anzufangen wissen. Das ist im Sinne des Wortes von Thomas von Aquin, daß sich jedes handelnde Wesen durch Handeln vervollkommnet, eine zutiefst menschliche Sache, denn physisch und psychisch ist der Mensch auf den Rhythmus von Arbeit und Erholung angelegt. So wie er Jahre hindurch keine 100-Stun den-Arbeitswoche aushalten könnte, genauso wenig sind wir fähig, mit der „totalen Freizeit” fertig zu werden.

In seinem Buch über die „Ökonomik der Freizeit” zitiert Andreae eine Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland, in der erhoben wurde, ob zuviel, zuwenig oder gerade richtig viel gearbeitet wird. Im Abstand von zwei Jahren meinten jeweils 52 Prozent der Befragten, daß gerade richtig viel gearbeitet wird. 1964 meinte ein Fünftel der Befragten, daß zuviel gearbeitet wird, 1966 dagegen nur noch ein Siebtel. 1964 meinten 23 Prozent, daß zuwenig gearbeitet wird, 1966 dagen schon 29 Prozent. Diese Einstellung zur Arbeit und Freizeit hat sich inzwischen stark gewandelt, insbesondere bei den jüngeren Semestern. So ergab eine kürzlich ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland vorgenommene Untersuchung über die Frage „Wenn Sie den Sinn Ihres Lebens zu formulieren hätten, sähen Sie ihn darin, etwas zu leisten oder das Leben zu genießen?” — eine knappe Mehrheit für den Lebensgenuß. Je jünger die Befragten waren, um so mehr entschieden sie sich für das Lebensgenußprogramm..

Daraus nun den Schluß zu ziehen, daß es einen permanenten Hang zur Freizeit gebe, wäre falsch. Unabhän gig von der Dauer der Freizeit ist bei jungen Menschen die Eingliederung in die Arbeitswelt mit vielen Problemen verbunden, vor allem aber mit dem Zwang zur Disziplinierung und mit dem Gefühl, unter dem wahren Leistungswert beschäftigt zu werden. Aus diesen vorerst unbe- wältigten Problemen dürfte in erster Linie der Hang vom vollen Lebensgenuß resultieren. Er ist nicht gleichbedeutend mit größerer Lust an mehr Freizeit, sondern eher im Zusammenhang mit der vorerst unerfüllten Bereitschaft zur vollen (und bedeutenden) Leistung zu beurteilen. Das sind Dinge, die sich in den ersten Berufsjahren kaum erfüllen und in einer möglicherweise auch freizeitintensiveren Lebensgenußsucht münden.

Mit der Qualität der übertragenen Arbeit steigt die Bereitschaft, mehr Zeit, selbst Freizeit, zu ihrer Erledigung einzusetzen. Das führt schließlich — und gar nicht im Extremfall — zum statussymbolbeladenen Zeitmangel.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß sich derzeit Seminare und Bücher, die sich als Rezepte für optimale Zeitnutzung anbieten, als Hits, in Managementkursen und auf den Bestsellerlisten erweisen. Offensichtlich will man sich und den anderen beweisen, daß man tasächlich arbeitsüberlastet ist und gleichzeitig die Bereitschaft dokumentieren, der „Zeitfalle” zu entgehen. Im Hinblick auf Zukunftsprobleme der Freizeit ist das bedeutsam: nicht mehr oder gar die „totale” Freizeit führt uns in das Utopia unserer Wünsche, sondern die Erfüllung in der Arbeit bei gleichzeitig rationeller Zeitnutzung. Das Vergnügen, das man während der Verrichtung der beruflichen Arbeit empfindet, steigt nicht nur mit der Position, sondern auch mit der Möglichkeit, die Arbeitszeit flexibler zu gestalten. Mehr Freizeit allein löst keine Probleme!

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