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Die Toten kehren wieder

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Eine kahle Wiese in der Nähe des Budapester Zentralgefängnisses am Rande eines Außenbezirkes der ungarischen Hauptstadt: Unter dieser Wiese - offiziell die Parzelle Nummer 3 01 - liegen alle jene Menschen, die zwischen 1957 und 1962 wegen ihrer Teilnahme am Volksaufstand 1956 in Budapest - meistens in Geheimverfahren - von den Machthabern zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Privaten Nachforschungen zufolge sollen hier 250 bis 300 Menschen verscharrt worden sein.

Hier, unter dieser Wiese, inmitten dermehr als 200 Märtyrer von 1956, befinden sich auch die sterblichen

Überreste jener Männer, die man vor 31 Jahren, am 16. Juni 1958, nach einem schnell abgewickelten Geheimprozeß im Hof des Zentralgefängnisses durch den Strang hingerichtet hat.

ln einem Kommunique des ungarischen Justizministeriums wurde am Tag darauf, am 17. Juni 1958 - genau fünf Jahre nach dem Arbeiteraufstand in Ostberlin - die Nachricht bekannt gegeben. Darin stand zu lesen, daß der Prozeß inBudapest stattgefunden, fünf Tage gedauert und der Volksgerichtshof des Obersten Gerichtes die “Anführer der konterrevolutionärenRevolte gegen die Volksmacht" für schuldig befunden und verurteilt hatte. Die neun Mitglieder der “Verschwörer- Gruppe Nagy" hatten verschiedene Strafen entgegenzunehmen. Über vierwurde die Todesstrafe verhängt.

Folgende Personen wurden zum Tode verurteilt:

Imre Nagy, 62, KP-Pohtiker, während des Volksaufstandes Ministerpräsident;

Pal Maläter, 41, General, während des Volksaufstandes Verteidigungsminister;

Jozsef Szilägyi, 43, Polizei-Oberst a.D., Chef des Sekretariats von Imre Nagy;

Miklos Gimęs, 41, Redakteur, Herausgeber einer Untergrund-Zeitung gegen das Kädär-Regime nach dem 4.November 1956.

“Die Urteile sind rechtskräftig. Sie wurden bereits vollstreckt" endete das Kommunique des Justizministeriums.

Mitangeklagte Imre Nagys, die nach Verbüßung ihrer Kerkerstrafen freikamen, legten später nach und nach Zeugnis ab, sodaß heute doch manche Einzelheiten des Geheimprozesses “in der Strafsache Imre Nagys“ bekannt sind. Von offizieller Seite wird dagegen bis zum heutigen Tag darüber Schweigen bewahrt.

Bekannt ist, daß das ganze Verfahren von sowjetischen KGB-Ex- perten in Szene gesetzt wurde und man in Moskau vorerst selbst nicht wußte, was mit Nagy und den anderen nach der Niederwerfung des Volksaufstandes passieren sollte. Nagy und mit ihm seine engsten Mitarbeiter samt Familie waren am Tag der sowjetischen Intervention, am 4.November 1956, vorerst in die jugoslawische Botschaft in Budapest geflüchtet Marschall Tito hatte den ungarischen Ministerpräsidenten wissen lassen, er könne jederzeit mit der Gastfreundschaft Ju goslawiens rechnen, sollte die Lage in Budapest brenzlig werden (siehe FURCHE 8/1989, Seite 17).

In der jugoslawischen Botschaft verblieb die Gruppe Nagy 18 Tage. Außer Jänos Kadar - der die von sowjetischen Bajonetten gestützte Gegenregierung anführte - war in der diplomatischen Vertretung Jugoslawiens fast das gesamte Politbüro der ungarischen KP versammelt.

Kadar ließ Tito wissen, Nagy und seine Freunde könnten jederzeit das Botschaftsgebäude verlassen. Ihnen drohe kein strafrechtliches Verfahren. Das war am 15.Novemberl956. Am ll.November hatte Tito in Pula eine Rede gehalten, die von ungarischen Zeitungen am 18. November abgedruckt wurde. Die Ungarn konnten lesen, daß der jugoslawische Staatschef Imre Nagy beschuldigte, als Ministerpräsident viel zu wenig energisch gegen die konterrevolutionären Kräfte des Aufstandes vorgegangen zu sein. Deshalb sei er in die jugoslawische Botschaft geflohen. Nim verkörpere aber Kadar die “wahren demokratischen Kräfte" in Ungarn. Die sowjetische Militärintervention vom 4. November in Ungarn sei zwar “ein Fehler“ gewesen - so Tito weiter - habe wohl aber einen Weltkrieg zu vermeiden geholfen und die Sache des Sozialismus in Ungarn gerettet.

Nach dieser Erklärung Titos verbot es Imre Nagys Stolz, noch weiter in der jugoslawischen Botschaft zu bleiben. Am 21. November gab die Kadär-Regierung nach längeren Verhandlungen auf Wunsch von Belgrad eine schriftliche Erklärung ab, in der sie versicherte, daß Imre Nagy und Gefährten niemals verfolgt würden und - nach Verlassen der Botschaft - ihre Wohnsitze frei erreichen könnten.

Am 22. November holten zwei Omnibusse Nagy und seine Freunde - insgesamt 37 Personen - bei der Botschaft ab. Entgegen allen Vereinbarungen fuhren die Fahrzeuge - von Rotarmisten gelenkt und von sowjetischen Schützenpanzern eskortiert - zu einer ungarischen Militärschule unweit von Budapest. Mitfahrende jugoslawische Diplomaten, die gegen denMenschenraub protestierten, wurden von sowjetischen Offizieren kurzerhand - und keineswegs sanft - aus den Omnibussen entfernt.

In der Militärschule in Mätyäs- föld wurde Nagy von Ferenc Münnich,einem Altbolschewiken und langjährigen Komintern- Funktionär„etzt rechte Hand Kadare , gedrängt, er solle Vernunft annehmen und “für die Sache der Partei“ als Ministerpräsident zurücktreten. Als sich Nagy weigerte, wurde er mit seinen Gefährten in der Nacht vom 23. auf den 24. November von Rotarmisten wieder in Omnibusse verfrachtet und auf einen Feldflugplatz unweitBudapests gebracht. Dort mußten sie bereitgestellte Flugzeuge besteigen. Obwohl es sich um bequeme Regierungsmaschinen handelte war der zwei Stunden dauernde Flug wegen miserablen Wetters und der allgemeinen Aufregung sehr strapaziös. Man landete mitten in einer Sqhneeland- schaft. Mit einer gewissen Erleichterung stellten alle fest, daß man sich in Bukarest und nicht - wie zuerst befürchtet - in Kiew befand.

Am 25. November erschien in der

Budapester Parteizeitung “Nepsza- badsäg“ ein Regierungskommunique, das vor Lügen nur so strotzte: Nagy und seine Gefährten hätten zwar “auf eigenen Wunsch“ ihr Asyl in der jugoslawischen Botschaft am 22. November aufgegeben, sie hätten 6ich aber sofort auf das Territorium eines anderen sozialistischen Staates begeben “wollen“. “Die Regierung der Rumänischen Volksrepublik hat sich bereiterklärt, Imre

Nagy und seine Gefährten bei sich aufzunehmen…"

Als der Verfasser dieses Beitrages Ende der sechziger Jahre während einer wissenschaftlichen Konferenz in Linz die Bekanntschaft eines hohen rumänischen KP-Funktio- närs machte und sich mit ihm anfreundete, antwortete dieser in bezug auf die Entführung Nagys ohne mit der Wimper zu zucken:

“Warum regen Sie sich darüber so auf? Die sowjetischen Genossen wollten Nagy wegen eventuellen in- terelationalen Schwierigkeiten nicht bei sich auf nehmen. Sie wiesen uns an, dies an ihrer Stelle zu tun. Es war unsere internationale Pflicht, dem Sowjet-Wunsch nachzukommen. Deswegen holten wir Nagyund Konsorten in Budapest ab. Bei uns waren sie genau so gut aufgehoben wie in Moskau.“

Im März 1957 wurden Nagy und einige seiner engstenMitarbeitervon den Rumänen abgeholt und in ein Bukarester Gefängnis gebracht. Dort blieben sie, bis sie im Mai den Budapester Polizeibehörden übergeben und in ein ungarisches Gefängnis eingeliefert wurden.

Die Kadär-Regierung wurde von Moskau angewiesen, den Prozeß gegen Nagy vorzubereiten. Am 28.Jänner 1958 erhob der ungarische Generalstaatsanwalt J.Szenäsi Anklage gegen “Imre Nagy und seine Komplizen“. Aufgrund dieser Anklage, die den Betroffenen Verschwörung gegen die ungarische volksdemokratische Ordnung und Landesverrat (1) vorwarf, begann in Budapest in aller Heimlichkeit die erste Prozeß-Serie.

Miteinbezogen waren Polizei- Oberst Sändor Kopäcsi, im Oktober 1956 Polizeipräsident von Budapest, und Generalmajor Pal Maleter. Der Prozeß vom Frühjahr 1958 dauerte nicht lange. Nach einigen Tagen unterbrach der Gerichtshof das Verfahren und ordnete weitere Ermittlungen an. Diese plötzliche Unterbrechung war Folge eines sowjetischen Annäherungsversuches an Marschall Tito. Chruschtschow wollte den starken Mann auf dem Balkan nicht mit einem Nagy-Prozeß brüskieren.

Am 27. und 28.März 1958 besuchte Kadar Tito. Er sollte zwischen Belgrad und Moskau vermitteln. Dieser Versuch mißlang. Chruschtschow soll einen Wutanfall bekommen haben, nachdem ihn der ungarische Parteichef vom Versuch Titos berichtet hatte, ihn,Kadar, zu einem unabhängigeren Kurs zu bewegen.

Allem Anschein nach besiegelte dieser Vorfall das Schicksal Imre Nagys und seiner Freunde.

Ende Mai 1958 wurde das strafrechtliche Verfahren wieder aufge nommen. Justizminister F. Nezväl, Altkommunist, von Beruf Schuhmacher, übergab die Prozeßakten Ferenc Vida, einem Juristenund Altkommunisten. Aber auch Vida (der übrigens heute als Rentner in Budapest lebt) konnte mit den äußerst dürftigen Beweisen der Staatsanwaltschaft nicht viel anfangen. Er pieldete seine Bedenken dem Justizminister. Genosse Nezväl wurde rot vor Wut und brüllte denkleingewachsenen Vida an: “Willst Du mit mir zusammen nach Sibirien reisen? Verstehe,Mensch, es geht hier nicht um juristische Spitzfindigkeiten, es geht um die Sache 1 “ Vida, stets gehorsamer Diener seiner Partei - nahm sich die Sache zu Herzen. In der Folge wurde der Prozeß im Gefängnisgebäude der Fö utca in Budapest im Juni nach den Weisungen des Justizministers “mustergültig“ durchgeführt (siehe Kasten).

Am 17. Juni gäb es ein Kommunique des Justizministeriums, das vor Lügen und Verleumdungen strotzte. Da wurde behauptet, Nagy hätte den “Putschgegen die Volksmacht“ von langer Hand vorbereitet, er habe “nach dem Sieg der Konterrevolution" Tausende von Kommunisten “abschlachten" wollen. In seiner Radioproklamation vom 4. November 1956 habe er “die Imperialisten um Militärhilfe gebeten, sie zu offener Einmischung in ungarische Angelegenheiten aufgefordert und somit Front gegen die Revolutionäre Arbeiter- und Bauem-Regierung“ gemacht.

Obwohl - wie im Kommunique interessanterweise festgehalten wurde - Nagy, Maleter und Szilägyi bis zuletzt ihre Schuld bestritten, wurden sie zusammen mit dem Redakteur Miklos Gimęs zum Tode verurteilt. Die anderen Angeklagten erhielten kürzere oder längere Haftstrafen. Das Urteil wurde am Samstag, 14. Juni, in Abwesenheit der Angeklagten verkündet. Den zum Tode Verurteilten wurde das Urteil am Sonntagnachmittag, 15. Juni, eröffnet. Ihnen verblieb nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebene Gnadenfrist von 24 Stunden bis zur Vollstreckung des Urteils. Ein Abschied von den engsten Familienangehörigen würde ihnen verweigert.

Am Montag, 16. Juni, schritten drei Personen in aller Frühe unter strengster Bewachung im Hof des Gefängnisses in der Kozma-Straße zu den in der Nacht zuvor aufgestellten Galgen. Imre Nagy, Pal Maleter und Miklos Gimęs trugen ihr Schicksal gefaßt. Polizei-Oberst Szilägyi - der im besagten Kommunique zu den Hingerichteten des 16. Juni gezählt wurde - war schon vorher liquidiert worden. In aller Heimlichkeit und ohne eigenes Urteil war er bereits am 24. April 1958 gehängt worden.

Angeblich hat jemand die Hinrichtung Nagys und seiner zwei Gefährten fotografiert. Für die Nachwelt. Für die Geschichtsbücher. Die Fotos sind aber bis heute nicht aufgetaucht.

31 Jahre sind seit dem Justizmord vergangen. Das Budapester Regime hätte sich nie träumen lassen, daß dieser Akt der Rache und Niederträchtigkeit in all den Jahren und Jahrzehnten in der Erinnerung der Öffentlichkeit haften bleibt. Noch im Vorjahr wurde in Budapest eine Gedenktafelenthüllung auf dem Pariser Friedhof “Pėrė Lachaise“ für Imre Nagy mit eisigem Schweigen übergangen.

Seither ist in Ungarn vieles ins Rollen gekommen. Die Ungarn sind sich bewußt, was sie der jüngsten Geschichte ihres Landes schulden. Die glorreichen Tage des Volksaufstandes von 1956 sind nicht vergessen. Die Erinnerungen daran brechen jetzt überall hervor. Imre Nagy und seine Mitstreiter gelten als “Märtyrer unserer jüngsten Geschichte“, wie unlängst die Budapester Zeitung “Magyar Nemzet“ schrieb. Ungarn denkt jetzt an seine Nationalhelden von 1956, die ihr Leb en für das Vaterland und für den politißchenFortschritt am Galgen einer poststalinistischen Macht geopfert haben.

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