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Die Traditionalisten

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Österreich leidet an seinen Traditionalisten. An seinen Traditionalisten in allen Lagern.

Der Bundeskanzler bezeugt sich als Traditionalist, wenn er gegenwärtig bei jeder Gelegenheit — er findet diese Gelegenheit an allen Orten, wo er auftritt und* Reden hält — betont, wie sehr er durch seine Vergangenheit, seine Kampfzeit in der Blüte seiner jungen Jahre, wie sehr er durch die Scheußlichkeiten des „christlichen Ständestaates” verletzt, lebenslänglich verletzt worden ist.

Noch leben in Österreich, vorzüglich in Wien, aber auch in anderen Städten, nicht wenige Sozialisten, die als alte Sozialdemokraten Intransigenz in der heutigen Partei wollen und sich in Abwehr gegen Jungsozialisten von jener seelischen, jener geistigen Härte geprägt zeigen, die das Mal — ich sage nicht: das Kainsmal — aller Traditionalisten sind: die Menschen sind, wie andere Menschen auch, sich aber durch die Narben, die sie unsichtbar an sich tragen und nach außen hin durch ihre ständigen Abwehrhaltungen bezeugen, die Bildung einer zukunftswilligen, gegenwartsoffenen Humanität behindern. •

Nun, es gibt sehr freundliche,, sehr charmante Traditionalisten, die keiner Fliege ein Haar aus-reissen wollen, auch gar nicht aggressiv sind nach außen. In ihnen lebt unauslöschlich die Erinnerung an Königgrätz, an diese Zerschlagung der alten Monarchie, die Zerschlagung eines alten Groß-Österreich, das ja nicht nur in ihren Träumen heute lebt, sondern in Menschen in Triest, in Agram Zagreb, in London und Paris und Tel-Aviv, die sehr intensiv an Alt-Österreich denken.

Hier gibt es übrigens fließende Ubergänge: Sehr prominente, zum Teil weltberühmte Altösterreicher, die sich nun jährlich in Wien bei der Tagung des Verbandes der Auslandösterreicher treffen, sind nicht einfach „Traditionalisten”, wie sie hier angesprochen werden; sie wissen um Tradition, um große unvergeßliche Traditionen, sind aber nicht „Traditionalisten”, fixiert auf ihren Traditionskult: sie leben, forschen, arbeiten in anderen Hemisphären, sind mit Lebensfragen von heute und morgen befaßt.

Tradition und Traditionalismus sind nicht ein und dasselbe. Der Gegensatz, der sich hier auftun kann, ist besonders eindrucksvoll an Katholiken zu beobachten: harte, intransigente römische Katholiken, die gegen alle „Neuerungen” in der Kirche kämpfen, denen das II. Vatikanische Konzil und Papst Johannes XXIII. unheimlich sind, die die kirchlichen Reformen als Kata-

Strophen, als ruchlose Schändungen der tausendjährigen ehrwürdigen und unaufgebbaren Traditionen der Kirche ansehen, die einen Karl Rahner und einen Küng als Satansboten „verstehen”.

Alle diese „Milieu”-Katholiken wissen nicht, daß ihre hochheiligsten Traditionen nicht selten wenig mehr als ein Jahrhundert alt sind, im 19. Jahrhundert geprägt wurden, im Jahrhundert der heute innerkatholisch zur Auseinandersetzung gestellten „Unfehlbarkeitserklärung”.

Diese Traditionalisten wissen sich selbst als unfehlbar: der Papst kann irren, wie, leider ihrer Ansicht nach, Johannes XXIII. und auch Paul VI. irrten. Leider, leider. Sie selbst irren nicht: Sie besitzen die Wahrheit, die ganze, reine, unverfälschte, unveränderbare Wahrheit.

Dieser tiefenpsychologisch so verständliche Besitz-Komplex hindert alle Traditionalisten, in welchem Lager immer sie sich religiös, politisch, weltanschaulich befinden mögen, an der Unterscheidung zwischen Tradition und Traditionalismus.

Tradition ist ganz offen: die Tradition, die für Humanisten durch Hellas, Altgriechenland, durch römische Staatsweisheit, die Tradition, die uns durch die Weisen aller Zeiten, durch Dichter, Künstler zukommt.

Wie weit Tradition und Traditionalismus voneinander entfernt sind, kann marxistischerseits leicht ersehen werden an dem Abgrund, der die Traditionalisten der Kreml-Kirche und ihren Marx von offenen, europäischen, westeuropäischen Marxisten trennt, die Marx ebenso kritisch untersuchen und besehen wie christliche Forscher ihre Heiligen.

Tradition ja: ohne Tradition kann der Mensch nicht leben, in seiner Civitas, in Gesellschaft also. Entwurzelte sind das Produkt von Zeiten, die den immer notwendigen Bindungen sich versagen.

Traditionalismus nein: Das ist Gettobildung, ist Selbst-Einkehrung, ist Selbstverkrümmung (anima curva, verkrümmte Seele: Bernhard von Clairvaux). Traditionalismus legt sich wie ein Mehltau immer noch über Österreich, schafft ein ungutes Klima, in dem Neid, Aggression, Verna-derung, Denunziation gedeihen.

Traditionalisten sind nicht „zu bekämpfen”, sind selten zu überzeugen: sie kämpfen ja um ihr Al-lerheiligstes, um ihr Ich, das fixiert ist, in Selbstbefriedigung, durch „ihren” Kult.

Anderes ist zu tun: Menschen, Kinder, Jugendliche zu seelisch freien Existenzen zu erziehen, die es nicht nötig haben, dem grausamen Fetisch des Traditionalismus zu erliegen.

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