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Die Tragödie, die keine Schlagzeilen mehr macht

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Berichte über Flüchtlinge, die unter abenteuerlichen Umständen - oft nur in einem kleiner» Boot, navigatorisch mit Schulatlas und Kompaß ausgerüstet-in Hongkong, Japan oder Australien landen, aber auch attraktive Investitionsangebote an eine.. Reihe von westeuropäischen Industrienationen haben in letzter Zeit die internationale Aufmerksamkeit wieder auf ein Land gerichtet, das bis vor zwei Jahren noch regelmäßig für Schlagzeilen gesorgt hat. Die Sozialistische Republik Vietnam, wie sie sich seit der 1976 erfolgten Wiedervereinigung nennt, ist im Begriff, nach einer ersten Phase interner Konsolidierung weltweit neue Konturen zu finden.

Das Erbe, das die 24 Millionen Nord- und die 22 Millionen Südvietnamesen nach dem dreißigjährigen Krieg antraten, war katastrophal. Bomben und Chemikalien hatten fast ein Drittel der Kulturlandschaft vernichtet; mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Bevölkerung des Südens war in den Städten zusammengeströmt und bildete dort ein Heer von Arbeitslosen, das in der hochtechnisierten Industrie keine Beschäftigung fand; Korruption und Elend zerfraßen die moralische Substanz des Volkes; noch heute ist über eine Million von venerischen Krankheiten befallen. Im Norden organisierte ein eisern puritanisches Regime das Existenzminimum.

Nach der am 30. April 1975 erfolgten Kapitulation Saigons waren es im wesentlichen vier Maßnahmen, die den Sozialismus im Süden einpflanzen und die Integration mit dem nördlichen Landesteil vorbereiten sollten. An erster Stelle stand die Konfiszierung materieller und geistiger Waffen: das erbeutete Kriegsarsenal hat mittlerweile unter revolutionären Regierungen und Guerilleros in aller Welt Bewerber gefunden; die eingesammelten ausländischen Bücher und Zeitschriften wurden . öffentlich verbrannt. Im Herbst sorgte dann eine sogenannte „Währungsreform” für deri Tifianziel- len Kahlschlag. Sämtliche alten Konten verfielen dem Staat. In dieser Zeit gab es angeblich über 10.000 Selbstmorde, oft von ganzen Familien. Etwa gleichzeitig mit dieser Aktion hatte eine große Umerziehungskampagne begonnen, der die ganze südvietname- siche Armee und ein Großteil der Bevölkerung unterzogen wurden. Für einfache Soldaten reichten drei Tage; höhere Kader, Beamte und Angehörige der oberen Bürgerschicht befinden sich noch heute in Lagern - offizielle Angaben sprechen von 60.000 Menschen - und es ist damit zu rechnen, daß die meisten von ihnen noch drei oder vier Jahre dem Dauerwechsel von schwerer Handarbeit Und theoretischer Gehirnwäsche unterworfen bleiben. Die vierte, vielfach noch im Anfangsstadium befindliche Kampagne betrifft die große Umsiedlung. Drei Millionen Menschen sollen in ihre alten Dörfer zurückkehren; drei bis fünf Millionen werden zu den sogenannten „Gebieten der neuen Wirtschaft” in Zentralvietnam und an der Peripherie Saigons, der heutigen Ho-Tschi-Minh-Stadt, in Marsch gesetzt, wo sie irn Sumpf und Urwald einige Gerätschaften, Saatgut und einen Hektar Land zur Bearbeitung und zum Leben zugewiesen erhalten.

Verglichen mit Kambodscha, wo die Mordkolonnen der Roten Khmer schon über eine Million Menschen vernichtet haben sollen, sind diese Maßnahmen in Vietnam noch relativ human und milde. Zusätzliche Schwierigkeiten ergaben sich in letzter Zeit durch die Tatsache, daß sich manche Funktionäre der Partei aus dem Norden nun ihrerseits in den Fallstricken südlicher Korruption verfingen. Auch waren die Probleme großstädtischer Ballungsgebiete nicht mit den Diaspora-Methoden Nordvietnams zu lösen und ungewöhnliche Dürre und Überschwemmung ließen die ohnehin schon prekäre Versorgung mit Grundnahrungsmitteln noch unbefriedigender werden. Dazu kommt die offene und versteckte Rėsi- stance, die sich um ehemalige Armeeangehörige, buddhistische Kreise und Intellektuelle konzentriert.

Ein Jahr nach der erzwungenen Wiedervereinigung besteht Vietnam de facto immer noch aus zwei getrennten Teüen. Wirtschaft und Wäh- rungsünion sind nicht vollzogen und wenn jetzt eine völlige Integration bis 1980 ins Auge gefaßt wird, dann erscheint dies ebenfalls als utopisch. Trotz weitgehender kultureller und nationaler Identität sind die Vietnamesen nach wie vor in eine Vielzahl von antagonistischen Sippen und Volksgruppen aufgesplittert, in denen das Nordsüdgefälle, Buddhismus und Katholizismus, französisch-amerika- nische und chinesisch-russische Ein flüsse in verschiedener Weise wirksam sind. Die Demontage ganzer Fabriken im Süden und ihre Verfrachtung in den Norden, die eindeutige Dominanz der Nordvietnamesen in Regierung, Partei- und Verwaltungskadern, die fast feindselige Distanz, der sogar süd- vietnamesiche Kommunisten im Norden begegnen, sind wenig geeignet, solche Barrieren zu schleifen.

Der 4. Parteitag im vergangenen Dezember, seit dem sich die Lao-Dong (Arbeiterpartei) wieder offiziell Kommunistische Partei Vietnams nennt, hat nun versucht, in diesen wuchernden Dschungel der Unübersichtlichkeit einige Ordnungsschneisen zu schlagen. Für die Jahre 1976 bis 1980 wurde ein Entwicklungsplan beschlossen, die Leitlinien für die nationale und internationale Politik wurden festgelegt. Eine wichtige Entscheidung betraf auch die - nach China - wohl beste Armee Südostasiens: Die Verantwortung für den Aufbau des Landes wurde dem Verteidigungsministerium übertragen. General Giap hat denn auch unverzüglich damit begonnen, seine und andere Kräfte zum „Marsch an die wirtschaftliche Front” zu mobilisieren. Es sind auch deshalb vornehmlich wirtschaftliche Gründe, die nun kurzfristig die vietnamesische Außenpolitik bestimmen. Die langfristigen Ziele hat Parteisekretär Le Duan schon Anfang 1976 bekanntgegeben, als er die unmißverständliche Zusage gab, Vietnam werde die Befreiungskämpfe der Völker Südostasiens „aktiv unterstützen”. Weiter in dieses Langzeitprogramm gehört auch der Anspruch Vietnams auf ganz Indochina. Laos ist schon jetzt in vielerlei Hinsicht eine Tributarmacht Hanois; das Projekt einer Eroberung Kambodschas, mit dem es in letzter Zeit öfter zu Grenzschwierigkeiten kam, liegt auf Eis.

Vorerst setzen Hanois Außenpolitiker allerdings nicht auf Konfrontation, sondern auf eine möglichst breit gefächerte Zusammenarbeit. Geschickt zwischen China und der Sowjetunion lavierend, hat sich Vietnam in letzter Zeit vo r allem der Region Ostasien und Westeuropa zugewandt. Zu allen ASEAN-Staaten bestehen diplomatische Beziehungen und in bilateralen Verhandlungen wird nun eifrig der Spielraum wirschaftlicher Kooperation ausgelotet; von den Westeuropäern haben sich bisher insbesonders Frankreich und die skandinavischen Länder in stärkerem Maße engagiert. Hanoi stellt für Auslandsinvestitionen ungewöhnlich günstige Bedingungen in Sicht, die nicht nur den Rücktransfer von Gewinnen, sondern auch den Kapitalschutz garantieren. Hauptadressat dieser Goodwill tour in den kapitalistischen Ländern sind jedoch eindeutig die USA, von denen eine erkleckliche Wiedergutmachungssumme erwartet wird.

Mehr als zwei Jahre nach dem härtesten Krieg der jüngsten Zeitgeschichte steht Vietnam mitten in neuen - ideologischen und wirtschaftlichen - Auseinandersetzungen, die ebenfalls tiefe Wunden schlagen. Was sich längerfristig als Lösung abzeichnet, erinnert an Jugoslawien. Manchem mag dies - wohl zu Recht - noch als das geringere Übel erscheinen.

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