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Die Türken kommen

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Alljährlich, wenn wenige Restkarten für das Neu Jahrskonzert der Wiener Philharmoniker zum Verkauf gelangen, verwandelt sich die sonst ruhige Gegend um den Musikverein in eine Art Kriegsschauplatz. Nur die Tapfersten und Hartnäckigsten haben die Chance, eine Karte zu ergattern. Bereits im vorigen Jahr gab es als Auftakt zum Neujahrskonzert eine schwere Schlägerei, bei der sogar Messer zum Tanzen kamen. Trotzdem blieben die traditionsbewußten Veranstalter beim gleichen Verkaufssystem. Ein Zettel an der Tür der heiligen Hallen pries 188 Restplätze an.

Diese präzise Angabe führte dann prompt zu dem, was man etwa als „dritte Türkenbelagerung“ bezeichnen könnte.

Bereits sechs Tage vor dem Verkaufstermin fanden sich an die zwanzig Wiener vor dem Musikverein ein; vier Japaner gesellten sich zu ihnen. Man verständigte sich und gestattete einander kurze Absenzen, etwa zum Besuch einer Würstelbude. So harrte man bereits einen Tag und eine Nacht bei niederen Temperaturen aus. Am Abend des dritten Tages - einige Österreicher waren gerade zum „Nachtmahl“ gegangen -, fuhren drei Kleinbusse vor. Heraus sprangen an die vierundzwanzig Türken, zur Belagerung bestens ausgerüstet: mit Decken, warmer Kleidung, Stühlen und Liegen. Blitzartig eroberten sie den Gehsteig vor der Tür.

Und nun geht es Schlag auf Schlag. Ein Peugeot 205 fährt vor. Ein leicht gekleideter Mittzwanziger steigt aus und übernimmt das Kommando. Seine Anweisungen werden befolgt. Die Sitzordnung der Türken wird auf einer Liste festgehalten. Da kommen die paar Österreicher vom Abendessen zurück und möchten ihre Plätze wieder beziehen. In Sekunden werden sie von den Invasoren umzingelt. Sie, so sagt man ihnen, hätten hier nichts verloren. Allenfalls dürften sie sich hinten anstellen.

Die Österreicher protestieren, beteuern, schon dreißig Stunden hier zu stehen. Sie werden von den platzhaltenden Kollegen unterstützt. Da kommt ein junger Türke aus dem Getümmel und erklärt: Sieben Österreicher und vier Japaner werden in den vorderen Reihen geduldet, aber: Wenn auch nur einer versucht, sich außertourlich einzuschleusen, müssen alle weg. Im übrigen haben die Österreicher nichts miteinander zu reden.

Da wagt ein kühner Einheimischer zu fragen, ob er hier in der Türkei oder in Österreich sei. „Wie war das? Karmst Du das nochmals wiederholen?“ lautet die Antwort. Der Österreicher schweigt. Die Türken geraten an den Rand der Geduld, drängen die unwillkommenen Nachzügler auf die andere Straßenseite und verlangen Ruhe. Unterstrichen wird diese Forderung mit einer eindeutigen Geste: sie ziehen die flache Hand an ihrem Hals vorbei.

In dieser gespannten Lage vergehen Tage und Nächte. Der Autor dieser Zeilen kommt selbst in eine bedrohliche Lage, als er zufällig in der letzten Nacht vor Kasseneröffnung sein vor dem Musikverein abgestelltes Fahrrad besteigen will. Ich werde sofort von etwa zehn Türken umzingelt Ich hätte hier nichts verloren. Als ich auf mein Fahrrad verweise, beruhigen sich die Gemüter.

Da aber geschieht etwas Merkwürdiges: Aus den Seitengassen fahren einige Kleinbusse vor, heraus springen weitere düstere Gestalten mit Stühlen und zur Belagerung adjustiert. Im Nu haben sie sich in die Schlange eingereiht. Die Zahl der Türken ist in wenigen Sekunden auf etwa achtzig Mann angestiegen. Die Österreicher wagen einen Protest, man verlangt nach der Liste. Die findet natürlich niemand mehr. Die Einheimischen werden unter massiver Drohung abgedrängt. Man hätte Messer, wird ihnen gesagt, sie sollen lieber vorsichtig sein.

Da erscheint wieder der Peugeot 205. Der Condottiere steigt aus. Seine kurzen, präzisen Anweisungen werden augenblicklich befolgt. Im Morgengrauen bildet man eine feste Menschenkette. Hier kommt niemand mehr durch, nicht einmal die Bediensteten des Musikvereins werden eingelassen. Da muß Polizei gerufen werden, die bahnt einen Weg für das Personal.

Um neun Uhr öffnen sich endlich die Tore. Die Drängelei gerät außer Kontrolle. Eine Fensterscheibe geht zu Bruch. Oben, im ehrwürdigen Büro der Philharmoniker, vergibt man brav und ordentlich zwei Karten pro eingestürmten Türken. Keiner von ihnen wird am Neujahrstag im Saal sein, das ist für die Verkäufer leicht erkennbar. Unschwer also zu erraten, daß nun ein Riesenschwindel mit den Karten be-glimt. Man teilt sie aus, bis nichts mehr da ist, und am Ende bekommen die abgedrängten Österreicher einige Stehplatzkarten in die Hand.

Man kommt nur so lange in Versuchung, diese Vorgänge als „philharmonische Anekdote“ ab-zutun, als man es unterläßt, sich über die Summen Gedanken zu machen, die bei diesen Spielchen im Umlauf sind. Hier ein Beispiel: Die Restkarten haben einen Preis zwischen 2.600 und 3.600 Schilling. Etwa 160 Karten gehen an die Türken. Bei einem angenommenen Mittelwert von 2.800 Schilling braucht man zum Ankauf die schlichte Summe von 464.800 Schilling. Eingeweihte wollen wissen, daß dieses Geld mit Hilfe eines ^eppichgeschäftes in der Wiener Innenstadt aufgebracht wird.

Die Karten werden nun an Hotels, Kartenbüros, vielleicht auch an dieses und jenes Reisebüro verschachert, von wo aus sie in die Hände von „musikliebenden“ Wien-Besuchern gelangen, die bei dem Neujahrskonzert unbedingt dabeisein wollen und sich das Vergnügen bis zu 10.000 Schilling kosten lassen.

Nehmen wir nun einen bescheidenen Gewinn von leicht über hundert Prozent pro Karte an, so gelangen wir an eine Million, von der wir nun die ausgegebenen 464.800 Schilling, die zum Erlös der Karten nötig waren, abziehen. Es bleiben 535.200 Schilling. Die Steher in der Reihe, auch das war zu erfahren, bekommen etwa 400 bis 500 Schilling pro Tag. (Um diese JDiäten“ zu verringern, wurde die Belagerung erst in der Nacht vor der Eröffnung verstärkt.) Die Kosten der Invasion belaufen sich also auf höchstens 100.000 Schilling. Der stolze Reingewinn der Aktion liegt demnach um die 400.000 Schilling! Prosit, Neujahr.

Geradezu selbstverständlich gibt es zu dieser Janitscharen-Konzertgeschichte die obligate Zugabe aus dem Reich der Polizeigroteske: Die ganze Zeit über stehen Autos der Türken im Halteverbot und im Behinderten-Halteverbot vor dem Musikverein. Patrouillierende Polizisten, von den Einheimischen in der Schlange aufmerksam gemacht, gehen einfach weiter - was sollten sie auch tun? Ein Funke in dieses Pulverfaß genügt, und eine Schlägerei oder Stecherei beginnt.

Hätte man um diesen blutigen

Preis den finsteren Belagerern das Handwerk legen können? Wäre es angesichts der vorjährigen Schlägerei nicht angebracht gewesen, wenigstens prophylaktisch einige Personalausweise zu kontrollieren, damit man im Falle des Falles weiß, mit wem man es zu tun hat?

Bleibt zu hoffen, daß sich die Philharmoniker für das nächste Jahr etwas einfallen lassen, um einen derartigen Schwindel zu unterbinden und interessierten Konzertbesuchern eine Chance geben, auf legalem Weg zu einer Karte zu gelangen.

Der Autor ist Mitglied der Wiener Symphoniker und Leiter des Orchesters Bella Musica.

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