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Die Uberläufer

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Das Buch „Die Uberläufer” ist das Material zu einem Buch. Es enthält gut zwei Dutzend „Stories” über Spione und Agenten, die für etliche zuständige „Dienste” von Staaten des Warschauer Pakts gearbeitet haben, mit ihrem Absprung aber nicht immer die ersehnte Selbstbefreiung zuwegebrachten.

Mit ihren Aussagen ließen sie andere auffliegen. Diese zusätzliche Nützlichkeit der Abtrünnigen macht sie ihren ehemaligen Auftraggebern besonders verhaßt. Der Absprung ist fast mit Sicherheit für den Rest des Lebens lebensgefährlich. Die Entlarvung von Spionen und Agenten geht zwar mit schöner Regelmäßigkeit durch die Tagespresse, doch rasch sind die Einzelfälle auch wieder vergessen.

Die Bekenntnis-Bücher von Uberläufern, Insider von gestern, sind wiederum nur Einzelphänomene, die in der Öffentlichkeit kaum bleibende Eindrücke hinterlassen. Weder rütteln sie dauerhaft auf, noch kommt es zu ihrer zusammenfassenden Auswertung und Interpretation.

Der Schock, den Viktor Krawtschen-kos Ubertritt und Enthüllungen 1944 in den USA auslösten, ist schon wieder kaum in Erinnerung, obzwardoch seine Verleumder in Frankreich nach dem Kriege erst 1979 widerriefen . . . Krawtschenko hatte 1966 Selbstmord verübt.

Van Berghs Dokumentation über in die Freiheit geflüchtete Ost-Agenten ist deshalb verdienstvoll, ja unentbehrlich, weil sie der Bequemlichkeit, der Unachtsamkeit und dem Vergessen entgegenwirkt. Seine . Aneinanderreihung von Uberläufer-Viten - mit den damit verflochtenen Personen - macht dramatisch anschaulich, was hinter den

Tagessensationen steckt, was da vor sich geht.

Margret Boveri (1900-1975) hat das unerschöpfliche Material in den ihr gemäßen Rahmen gestellt und als „Verrat im 20. Jahrhundert” benannt (4 Bände, 1956-1960). John Barron lieferte die umfangreichste Zusammenfassung neueren Materials: „KGB. The Secret Work of Soviet Secret Agents”. 1974, deutscli im selben Jahr. Mit den beiden Hinweisen sind die bedauerlichen Grenzen von van Berghs Uberläufer-Kollektion angegeben.

Keine noch so ausgiebige Sammlung von „Defector-Biographien” - so vielsagend jede der nachgezeichneten auch ist - kann die Darstellung der bei Boveri weiter oder bei Barron enger gefaßten Zusammenhänge ersetzen; auch ist es mit übergelaufenen Profi-Spionen und Agenten nicht getan. Das Phänomen ist sehr viel weiter zu fassen. Es sind die Beweggründe und Schicksale von Uberläufern aller Art zu berücksichtigen.

Ein Satz Jewgenij Runges könnte bei nicht wenigen als Schlüssel dienen: „Wenn ich auch nur die geringste Möglichkeit gesehen hätte, das System zu ändern, wäre ich dabei geblieben”.

Wo liegt demnach die Grenze zwischen dem Überzeugungstäter dem „mobilen” oder dem „stationären” Überläufer (der im Land bleibt) und dem Oppositionellen aus Überzeugung, dem Dissidenten? Für die Justiz (und die Medizin) eines totalitären Regimes ist die Antwort einfach. Umgekehrt errichten solche Regime ihren „Kundschaftern” Denkmale oder lassen den von den Japanern 1944 hingerichteten Richard Sorge mit einer Oper feiern.

Van Bergh begnügt sich mit den Fakten, den „Stories”. Der Untertitel macht die Quellen überdies interessanter als sie sind. Der Hintergrund, der Motor ist ihm zufolge nichts weiter als Schizothymie, und dann halt „Defek-tionitis”, die unheilbare Gemütskrankheit nach dem Uberlaufen.

Wäre van Bergh nicht so sehr von den „mokrie dela” , von den „nassen Sachen”, wo Blut fließt, fasziniert, hätte er sich mehr in die Psychologie der Apostaten vertieft und die intellektuellen Uberläufer aus den KP, der Diplomatie und Wirtschaft, dem Militär und aus den wissenschaftlich-technischen und kulturell-künstlerischen Bereichen hinzugenommen, auch so manchen „Reform”-Kommunisten und Schein-Dissidenten, dann wäre dem Überläufertum aus kommunistischen Regimen die Dimension hinzugefügt worden, die für unsere Zeit nicht minder wesentlich sein dürfte wie der thrillerhaft spannende Zweikampf der Geheimdienste.

Warum gesellen sich diese Ratten zur ohnehin schon nicht geringen Zahl auf dem sinkenden Schiff? Weil „der Kapitalismus” so schön stirbt? Van Bergh sollte das Buch zu seinem Buch schreiben.

DIE ÜBERLAUFER. Von Hendrick van Bergh. Eine illustrierte Dokumentation aus den Akten der Geheimdienste. Verlag Johann Wilhelm Naumann. Würzburg 1979.352 Seiten, öS 192.50.

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