6890850-1979_45_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Ursachen der Überforderung

Werbung
Werbung
Werbung

Beim Begriff „Schulstreß“ denkt man meistens an die Überlastung durch die Stoffül- le. Diese müßte wirklich drastisch vermindert werden: weniger, das Wenige aber gediegen und gründlich. Dabei sind durchaus die Quellen des selbständigen Wissenserwerbs zu erschließen.

Für die spätere Weiterbildung muß der Schüler erfahren, wie man aus eigenem an das Wissen herankommt. Selbständiger Wissenserwerb ist notwendig, da wegen der rasanten Weiterentwicklung auf allen Gebieten die Schule nie mehr imstande sein wird, das Wissen für ein ganzes langes .Leben zu vermitteln. Daher der berechtigte Ruf nach dem „Lernen, wie man lernt“.

Dabei darf man aber nicht übertreiben. Der Lehrling etwa sucht sich nicht deshalb einen Meister, damit ihn dieser auf weiterführende Kurse und Fachbücher verweist. Es wird vielmehr erwartet, daß ihn der Meister in eigener Person in die Geheimnisse des Handwerks einweiht. So geht auch der Schüler in erster Linie deshalb in die Schule, damit er dort etwas lernt, und erst in zweiter Linie, damit er lernt, wie man lernt.

Der Stoffreduzierung, obwohl allgemein als notwendig angesehen, steht mancherlei im Wege:

• Der Erfolg einer Schule steht und fällt mit den Prüfungsergebnissen. Einerseits kämpft man gegen die No- tengebung; anderseits treibt man die Objektivierung bis zum Exzeß, indem man für alle Schulen gleichen Typs möglichst gleichgeschaltete Aufgaben stellt, ohne Rücksicht auf individuelle Unterschiede bei Schülern und Lehrern. Betragen und Fleiß sind nebensächlich, das Zeugnis informiert nicht mehr darüber.

• Daher muß sich der Ehrgeiz des Lehrers in der Vermittlung von Stoffwissen erschöpfen. Der Lehrer ist ehrgeizig. Er treibt das voran, worauf man heute den meisten Wert zu legen scheint. Es ist schick, in wohlvorbereiteten Unterrichtseinheiten immer mehr Stoff zu „erarbeiten“. Die Versuchsschulen leben von der Zielsetzung und dem Glauben, daß sie geeignet sind, den Schülern mehr Wissen beizubringen als, die Regelschule. Ein ehrgeiziger Lehrer wird der Versuchung nicht widerstehen können, immer mehr Stoffquantitäten herbeizuschaffen.

Leistungsdenken ist zwar notwendig, denn ohne Leistungswillen verkümmert der Mensch. Er verkümmert aber auch, wenn das Leistungsdenken ihn so ausschließlich beherrscht, daß er es nicht mehr dem gesamtmenschlichen Rahmen einzuordnen versteht.

• Da der Lehrer kaum Mittel hat, seiner sachbedingten Forderung nach Ruhe und Ordnung Nachdruck zu verleihen, ist er in Versuchung, durch umfangreichen und schwierigen Unterrichtsstoff die Aufmerksamkeit der Schüler zu erzwingen. Es ist klar, daß die Schüler bei einem solchen Lehrer aufmerksamer sind. Bei dem andern, der es ihnen leichter machen will, gleichen sie den Überdruck durch respektloses Verhalten aus. Selbstverständlich versucht dann auch dieser Lehrer, das wirksame Mittel zu ergreifen, die Latte höher zu legen.

Außerdem kann jeder Lehrer seine Person, so oft feindseligen Angriffen ausgesetzt, hinter dem Unterrichtsstoff verschanzen: Sachlichkeit statt Persönlichkeit. Engagiert er sich zu sehr, wachsen auch die Gefahren für seine Person. Es scheint, daß die Gesetzgebung, die so sehr den „Schutz“ des Schülers vor der „Willkür des Lehrers“ im Auge hat, erst recht zum Bumerang wird. Das Mißtrauen, das man dem Lehrer entgegenbringt, trägt keine guten Früchte.

Es gibt eine Reihe von Aufgaben, die die Schule außer der Vermittlung von gediegenem Wissen noch wahrnehmen soll. Dazu gehört das Übungsangebot. Üben heißt nichts anderes, als Arbeitsabläufe und , Denkabläufe zu mechanisieren. Zuerst wird der Weg zum Verständnis geebnet, dann durch Übung der jeweilige Denkvorgang verkürzt und rationalisiert. Erst wenn diese Mechanismen jederzeit parat liegen und greifbar sind, kann Neues aufgebaut werden.

Dies gilt für das Erlernen von Schreiben und Lesen so gut wie für das Erlernen von Fremdsprachen.

Für Mathematik und Physik muß man gewisse Gesetzmäßigkeiten ständig im Repertoire haben. Manche Pädagogen tun so, als wäre es unter, der Würde des Menschen, etwas mechanisch einzuüben. Dabei kann es doch nur das Selbstwertgefühl steigern, wenn man sich eine Fertigkeit oder einen Denkablauf so angeeignet hat, daß man sie souverän beherrscht.

Es wird in der Theorie viel zu wenig Wert darauf gelegt, daß die Schüler ihre Aufzeichnungen sauber und übersichtlich zu Papier bringen. Man übersieht, daß die äußere Ordnung Voraussetzung dafür ist, daß die Dinge auch geistig in Ordnung gebracht werden können.

Unordnung führt zu Verlusten und zu Leerlauf, zu schuldhaften Versäumnissen, sie kann sogar straffällig machen. Ordnung führt zu Selbstdisziplin, diese ist Voraussetzung dafür, daß der Mensch Herr seiner Lebensumstände bleibt.

In der Schule erleichtert die Übersichtlichkeit und die ansprechende Schrift in den Heften das Lernen. Deshalb muß der Lehrer die Möglichkeit haben, beim Schüler Sauberkeit und Ordnung durchzusetzen. Das erfordert einen entsprechenden

Druck, der wiederum in der modernen Pädagogik verpönt ist. Auch zur Einhaltung der Verkehrsordnung wird nicht bloß „hingeleitet“ oder „angehalten“, sie muß durchgesetzt werden, zum Wohle der Verkehrsteilnehmer!

Die übergroße Stoffmenge mag auch ein Ausdruck einer Verlegenheit im Bereich der Pädagogik sein. Man weiß, daß man dem jungen Menschen Erziehung angedeihen lassen soll, hat aber keine Leitvorstellung, zu welchem Menschenbild erzogen werden soll Daher die Flucht nach vorne in den Wissensmaterialismus, um nicht zur Besinnung kommen zu müssen.

Um durch Stoffreduzierung nicht neue Mißverständnisse und neuen Schaden zu schaffen, muß im ernsten Verantwortungsbewußtsein Antwort auf Fragen gesucht werden, die das Wesen des Menschen betreffen. Nicht für die Wirtschaft, nicht für den Fortschritt, nicht für die Kultur, welche Werte auch immer diese Begriffe darstellen, erziehen wir den Menschen, sondern für sich selbst. Hier ist nicht engstirniger Egoismus gemeint, sondern der Anspruch, sich aus den engen Grenzen der primitiven Kreatur in die Möglichkeiten eines sich immer mehr ausweitenden Bewußtseins zu entfalten.

(Ende der Serie)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung