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Die Vergangenheit kehrt wieder zurück

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Noch ehe die Christenheit das Fest der Geburt des Menschensohnes ihres Gottes durch die Adventzeit vorbereitet, beginnt auch der Kommerz mit Weihnachten. Die Auslagen der Schaufenster stimmen die Kundschaft darauf ein, daß es nun Zeit ist, die üblichen Geschenke einzukaufen und zu überlegen, ob nicht selbst eine größere Anschaffung nötig sei. Aber auch ohne auf den Gewinn zu sehen, verändert sich in der Vorweihnachtszeit das Bild in den Städten und Dörfern der fünf neuen Bundesländer. Der Lichterbaum ziert den Platz vor dem Rathaus, und die Hauptstraßen sind in festliche Beleuchtung getaucht. So mancher Bürgermeister läßt in seinem Dorf den Anger mit weihnachtlichem Schmuck ausstatten. In den Kindergärten kommt der Weihnachtsmann, der die Kleinen im Vorschulalter mit Süßigkeiten beschenkt. In der Schule gibt es eine Weihnachtsdisco und auch so manches Arbeitskollektiv organisiert sich eine Feier.

Diese Äußerlichkeiten prägen auch in diesem Jahr Weihnachten zwischen Elbe und Oder, Fichtelberg und Ostseestrand. In dem Teil Deutschlands, der noch vor wenigen Monaten den Namen DDR besaß, ist äußerlich so vieles ähnlich oder gar gleich geblieben. Es hat den Anschein, als seien auch die Menschen gleich geblieben, die in den vergangenen Monaten so viel Zeitgeschichte geschrieben haben.

Wie eh und je bereiten sich die Menschen um mich herum auf das Fest der Familie vor. Da heißt es, für Verwandte und Freunde, vor allem für die Kinder, Geschenke einzukaufen und dem nachzujagen, was traditionell in der Familie zum Weihnachtsfest gehört. Damit beginnt ein Hetzen und Suchen nach Preiswertem und Nützlichem, das jeder früher oder später dann doch verliert. Die Geschenke werden wieder nur Ausdruck dessen sein, was die großen Kaufhäuser - wie sie selbst meinen, dem Zeitgeschmack entsprechend - anbieten.

Weder Zeit noch Muße sind da, durch ein individuell ausgesuchtes Geschenk wahre Freude zu bereiten. Die Hausfrau, die nach wie vor im Beruf ihren Mann stehen muß, wird am Heiligabend bis zur letzten Minute in ihrem Haushalt zu tun haben, um Weihnachtsgans, Obstsalat und Bunte Teller mit allerlei Süßigkeiten, Nüssen und Südfrüchten rechtzeitig fertigzubekommen.

Die eigentlichen Sorgen meiner Mitmenschen bleiben durch die Geschäftigkeit bei der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest in den Wohnungen, Straßen und Kaufhäusern jedoch nicht verborgen. Mehr als in den Jahren zuvor wird über das Kommende, über die persönliche Zukunft im Beruf sowie die der Kinder in Schule und Ausbildung nachgedacht und geredet. In jeder Familie ist wohl dieses Thema auch der Mittelpunkt, wenn sich am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag Freunde und Verwandte treffen.

Dieses Jahr nach der sanften Revolution hat seine Wirkungen hinterlassen, die das Leben der Menschen auch zum Weihnachtsfest beeinflussen. Heute bestimmt nicht mehr die Euphorie des Sieges über die Machthaber des Sozialmus das Denken. Vielmehr ist es jetzt die sorgenvolle Frage, wie lange es dauern wird, bis das zusammengewachsen ist, was zusammen gehört, und bis auch hierher der versprochene Wohlstand der Marktwirtschaft kommt. Die letzten Wochen und Monate vor und im wiedervereinten Deutschland haben den neuen Bundesbürgern gezeigt, daß es noch einer gehörigen Anstrengung bedarf, bis aus den beiden so unterschiedlichen Teilen des Vaterlandes ein Ganzes entsteht.

Deutlicher als je erwartet, zeichnet sich jetzt auch ab, daß die vom Westen stets mit Häme bedachte DDR-Identität notwendig ist bei der Gestaltung des gemeinsamen Ganzen. Dabei ist es nicht einfach, daß die Menschen es sich eingestehen, daß sie Kinder der DDR sind und diese Vergangenheit ganz bewußt in ihre Zukunft mitnehmen sollen. Sie sind gewachsene und gebrannte Kinder der DDR, dieser Fußnote der europäischen Geschichte, die viele Verletzungen erfahren haben. Die vorerst letzte war, daß die Hoffnungen so plötzlich politische Gestalt bekamen und kaum Zeit blieb, Eigenes aufzubauen, was jetzt unsere Mitgift wäre. So heißt es nun, so schnell wie möglich zu lernen, wie Gutes und Böses im neuen Deutschland zu unterscheiden sind. Weihnachten 1990 heißt der Tenor dazu, wenn wir gemeinsam unsere Herkunft nicht verleugnen und in dem Neuen eine Zukunft entdecken, wird uns der Anfang gelingen.

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