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Die verkannte Krise der Volkspartei

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Niemand hat so früh so gründlich über die notwendige Reform der ÖVP nachgedacht (und publiziert) wie der einstige Chefredakteur der „österreichischen Monatshefte“, Prof. Ludwig Reichhold. Sein Buch „Chance einer Partei“, 1972 bei Styria erschienen, liest sich wie ein brandneuer Wahlkommentar 1979. Wir haben ihn gebeten, ein wenig in seinen Erinnerungen zu kramen ...

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Niemand hat so früh so gründlich über die notwendige Reform der ÖVP nachgedacht (und publiziert) wie der einstige Chefredakteur der „österreichischen Monatshefte“, Prof. Ludwig Reichhold. Sein Buch „Chance einer Partei“, 1972 bei Styria erschienen, liest sich wie ein brandneuer Wahlkommentar 1979. Wir haben ihn gebeten, ein wenig in seinen Erinnerungen zu kramen ...

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Liebe auf den zweiten Bück“ -so lautete die Aussage der ÖVP für die Wiener Nachwahl im Oktober 1970, die auf Grund einer Anfechtungsklage seitens der FPÖ damals notwendig geworden war. Dieser Slogan war der typische Fall einer Verkennung der wirklichen politischen Situation, die durch den Sieg der SPÖ bei den Märzwahlen dieses Jahres eingetreten war. Bereits ein Jahr danach erfolgte die Bestätigung solcher Verkennung, als die SPÖ bei den Oktoberwahlen von 1971 zum ersten Mal die absolute Mehrheit erreichte.

Im darauffolgenden Jahr brachte der Styria-Verlag mein Buch „Die Chance der ÖVP“ heraus, dessen -besserer - Titel ursprünglich lautete „Krise und Chance der ÖVP“. Es war der erste und einzige Versuch einer einigermaßen gründlichen Auseinandersetzung mit den hintergründigen Faktoren der beiden Wahlniederlagen von 1970 und 1971, die u. a. folgende Feststellung enthielt:

„Die ÖVP muß von dem Umstand ausgehen, daß ihre jetzige Schwäche ihre Ursache nicht in einem momentanen Betriebsunfall hat, sondern auf

Faktoren zurückzuführen ist, die sich von einem Tag auf den anderen kaum beseitigen lassen. Sie hat sich nämlich über ihre Stärke als Organisation Jahre hindurch einer Selbsttäuschung hingegeben.“

In einem schon 1971 dem damaligen Bundesparteiobmann zugeleiteten Memorandum zur Neuprofilie-rung der ÖVP wurde als eigentlicher Hintergrund der Krise dieser Partei der Strukturwandel der Gesellschaft bezeichnet.

Hier heißt es: „Wir haben es heute mit der Tatsache zu tun, daß jene Struktur der Industriegesellschaft, die im Zuge der ersten industriellen Revolution aufgebaut wurde, immer stärker abgebaut und durch einen grundlegend veränderten Aufbau ersetzt wird, der im Zuge der zweiten industriellen Revolution entsteht. Welche der beiden Parteien in Zukunft die dominierende Rolle spielen wird, hängt daher weitgehend damit zusammen, welcher von ihnen die Anpassung an die moderne Gesellschaft - in allen ihren Konsequenzen - zuerst gelingt.“

Weiters hat es in diesem Memorandum geheißen: „Die Ergebnisse der Nationalratswahl 1970 haben bekanntlich gezeigt, daß es der SPÖ teilweise gelungen ist, in gesellschaftliche Domänen der ÖVP einzubrechen bzw. Schichten zu gewinnen, die im allgemeinen nichtsozialistischen Parteien zugeordnet werden. Während die ÖVP derzeit durch den gesellschaftlichen Strukturwandel - etwa durch die Dezimierung des Bauernstandes - ins Hintertreffen gerät, scheint die SPÖ durch den gleichen Wandel... augenblicklich begünstigt zu werden.“

„Worum es also“ - so lautete die Schlußfolgerung in dem erwähnten Memorandum - „in Verbindung mit einer gesellschaftlichen Neuorientierung der ÖVP geht, ist nichts anderes als die Entwicklung einer neuen Gesellschaftspolitik. Wir haben gewiß auch schon bisher Politik für diese Gruppen (gemeint sind die im Rahmen der zweiten industriellen Revolution aufsteigenden Gesellschaftsschichten, die dort im einzelnen analysiert wurden) gemacht; worum es sich jetzt handelt, ist jedoch eine Politik, die auf ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft abgezielt ist, in welcher sich die Funktion aller dieser Gruppen grundlegend verändert hat. Es sollte daher in den kommenden Monaten systematisch versucht werden, eine solche Politik zu entwickeln ... Diese systematische Vorgangsweise ist gleichzeitig die grundlegende Voraussetzung einer Dynamisierung der Politik der ÖVP, an der es bisher nur deshalb gemangelt hat, weil keine konzentrierten Zielvorstellungen entwickelt wurden.“

Zu einer solchen Neuprofilierung der ÖVP ist es seit 1970 leider nicht gekommen. Ansätze dazu hat es sicherlich gegeben, so insbesondere mit dem „Salzburger Programm“, das jedoch als Grundsatzprogramm eben deswegen auf ein nur geringes Interesse stoßen konnte, weü die Fundamentalprinzipien der Partei durch den Wandel der Gesellschaft eigentlich nicht in Frage gestellt wurden.

Sporadisch tauchte auch eine Orientierung an jener „neuen Mitte“ auf, in der sich dieser Wandel konkretisiert, aber eine gelegentliche Bezugnahme auf sie ist eben zuwenig, da es letztlich um die Bildung eines neuen politischen Bewußtseins geht, die man damit nicht bewerkstelligen kann. Als dann der Wirtschaftsbund zumindest den Versuch unternommen hat, sich etwas systematischer auf diese „neue Mitte“ einzustellen, wurde der Begriff eigentlich auf ein falsches Geleise geschoben, weü man ihn wieder mit dem alten Mittelstand identifizierte, während es im Grunde genommen um Arbeitnehmerschichten geht.

Fragt man nach der wesentlichen Ursache dieser teilweisen Verkennung und teilweisen Verschleppung, dann stößt man sehr bald auf die zentrale Schwäche der ÖVP: ihre bündische Gliederung.

Auch dieser Zusammenhang wird in dem genannten memorandum aufgezeigt, wenn es dort heißt: „Die Zukunft der ö VP wird in einem nicht geringen Maße davon abhängen, ob es gelingt, ihre Bünde zu einer Partei zu integrieren. Ob die Lösung dieser Aufgabe in absehbarer Zeit möglich ist, daran wird sich vielleicht überhaupt das Schicksal der österreichischen Volkspartei entscheiden. Die größte politische Schwäche der ö VP, die sich in der Vergangenheit immer wieder zu ihrem Nachteil bemerkbar gemacht hat, war ihre Handlungsschwäche, nämlich das Unvermögen, politische Zielsetzungen systematisch zu verwirklichen. Sie war in der Hauptsache, wenn nicht zur Gänze durch den Umstand verursacht, daß die Einigung auf solche Zielsetzungen mehr Zeit und Energie beansprucht als die Umsetzung von Zielsetzungen in politische Realitäten, soweit“ man überhaupt zu einer Einigung auf bestimmte Zielsetzungen gekommen ist.“

Das Memorandum wird dann noch deutlicher: „Geht man dieser Erscheinung auf den Grund, dann ergibt sich überhaupt, daß die ÖVP in der Vergangenheit weniger durch positive Zielsetzungen - die es selbstverständlich gegeben hat, nur war die Einigung auf sie stets mit größten Schwierigkeiten verbunden -, als vielmehr durch einen politischen Gegner zusammengehalten wurde, der zwei Jahrzehnte hindurch für eine Ideologie eingetreten ist, die als letzter Kitt der ÖVP fungierte, weil der Gegensatz zur SPÖ am Ende doch größer war als jener zwischen den Bünden. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, daß die ÖVP in Wahlkämpfen immer wieder mit der „Roten Katze“ operieren mußte.“

Und weiter: „Die eigentliche Krise unserer Partei, mit der wir es seit dem 1. März (1970 d. Verf.) zu tun haben, rührt also letztlich daher, daß dieser Gegensatz heute nicht mehr als Kitt für die bündischen Risse der Partei gebraucht werden kann: erst jetzt kommt uns jenes Manko an positiven politischen Zielsetzungen zum Bewußtsein, das es im Grunde immer schon gegeben hat Wenn die ÖVP in den Augen der Öffentlichkeit trotz ihrer unbestreitbaren Leistungen als die weniger dynamische Partei gegolten hat, dann ist das auf den Mangel an Handlungswillen oder einer entsprechenden Handlungsfähigkeit der Partei zurückzuführen. Das ist am Ende nichts anderes als ein Manko an politischer Dynamik.“

„Die bündische Struktur der Partei (die in gewissen Grenzen zweifellos ihre Berechtigung hat)“ - wird in dem Memorandum fortgesetzt - „hatte nicht zuletzt die entscheidende Folge, daß sie Funktionären und Mitgliedern das politische Denken abgewöhnt hat. An seine Stelle ist ein sektorales, am Kirchturm der eigenen Interessen orientiertes Denken getreten. Das gleiche sektorale, nämlich beinahe apolitische Denken ist auch die Hauptursache für das am 1. März 1970 offenbar gewordene politische Fiasko der ÖVP-Alleinregie-rung, weil es einfach das Denken in größeren Zusammenhängen unmöglich macht, den Willen zur Uberwindung von Schwierigkeiten schwächt und die Neigung zur Kritik anheizt, die sich an jeder Verletzung von Einzelinteresse entzündet.“

„Inzwischen sind mehrere Umstände eingetreten“ - ich folge immer noch meinem Memorandum von damals, nämlich von 1971 (!)-„die für die Zukunft eine derartige Aufweichung des Gesamtwillens unmöglich machen, will die Partei nicht das Risiko eingehen, allmählich an ihren eigenen Gegensätzen zu zerfallen. Diese Umstände sind folgende:

1. Der Angstkomplex, den es in der Vergangenheit in Verbindung mit den politischen Zielsetzungen der SPÖ gegeben hat, existiert in der Bevölkerung nicht mehr. Er eignet sich nicht mehr als Kitt der ÖVP.

2. Die Parteien stehen heute eher vor der Notwendigkeit, sich an Sachproblemen denn an Ideologien zu orientieren. Das gut auch für die SPÖ, die mit dieser Orientierung an Sachproblemen für die ÖVP zu einem sehr viel gefahrlicheren Gegner denn als austromarxistische Partei wird.

3. Damit tritt auch für die ÖVP der Primat sachlicher Zielsetzungen in den Vordergrund, d. h. daß eine Einigung nur mehr im Sinne solcher Zielsetzungen, nicht aber auf Grund negativer Assoziationen möglich ist. Derartige Zielsetzungen bedingen auch eine andere Struktur der Partei.“

Soweit ein kurzer Auszug aus meinem damaligen Memorandum, der immerhin zeigt, daß es an der Aufzeigung der wahren Situation der ÖVP, an einer Analyse ihrer politischen Schwäche und an Vorschlägen zu ihrer Überwindung nicht gemangelt hat - schon 1971! In dem umfangreichen Memorandum wird nämlich auch auf eine ganze Reihe von Maßnahmen eingegangen, die als Folgerungen aus der vorgenommenen Analyse gesetzt werden sollten.

Ich möchte nicht mit dem billigen Argument schließen, daß in der Kärntner Straße gegenüber diesem immerhin beachtenswerten Versuch - ergänzt noch durch das Buch „Die Chance der ÖVP“ - nach der Parole gehandelt wurde „net amol ignorieren“. Gewiß liegen auch Versäumnisse vor, die sich inzwischen bitter gerächt haben, aber mir scheint doch, daß die Zeit im Jahre 1971 einfach noch nicht reif war für die Konsequenzen, die aus diesem Memorandum gezogen hätten werden müssen.

Wahrscheinlich hat man auch den Ernst der Situation verkannt und gemeint, nur eine Schlacht, aber nicht schon den Krieg verloren zu haben. Das ist inzwischen wohl anders geworden. Erst wenn man jetzt im Angesicht der jüngsten Wahlkata-strophe - denn so etwas und nichts anderes war es - sich nicht dazu aufraffen sollte, grundlegende Konsequenzen zu ziehen, wird man in nicht allzu ferner Zukunft mit Recht sagen können: Diese Partei hat zu ihrer Stunde die Zeichen nicht erkannt.

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