Die Vision von einem Traumland
Als Ziel des militärischen Staatsstreichs in Brasilien im Jahre 1964 wurde angegeben:eine durch Korruption und Protektionswirtschaft verseuchte Verwaltung zu säubern;die Brasilianer dazu zu bringen, die ungeheuren Reichtümer des Landes auszubeuten und so eine gesunde Wirtschaft aufzubauen, die nicht mehr allein von der Verteilung ausländischer Entwicklungshilfen auf dem Weg der Durchstecherei lebe und zu 80 Prozent in ausländischem Besitz sei;Kampf gegen den Kommunismus für ein christlich-demokratisches Staatsideal. Die Wissenschaft solle als Aktionsinstrument dienen, die Demokratie als Form der politischen Organisation, das Christentum als Modell einer höheren Ethik der sozialen Koexistenz;Entschlossene Bekämpfung jeder Subversion als Gefährdung der nationalen Sicherheit. Unterschiede zwischen orthodoxen Kommunisten, Anhängern der friedlichen Koexistenz, Pro-Maooder Pro-Castro-Revolutionären, aber auch Christen, die sich mit deren Bestrebungen identifizierten, würden nicht akzeptiert.
Als Ziel des militärischen Staatsstreichs in Brasilien im Jahre 1964 wurde angegeben:eine durch Korruption und Protektionswirtschaft verseuchte Verwaltung zu säubern;die Brasilianer dazu zu bringen, die ungeheuren Reichtümer des Landes auszubeuten und so eine gesunde Wirtschaft aufzubauen, die nicht mehr allein von der Verteilung ausländischer Entwicklungshilfen auf dem Weg der Durchstecherei lebe und zu 80 Prozent in ausländischem Besitz sei;Kampf gegen den Kommunismus für ein christlich-demokratisches Staatsideal. Die Wissenschaft solle als Aktionsinstrument dienen, die Demokratie als Form der politischen Organisation, das Christentum als Modell einer höheren Ethik der sozialen Koexistenz;Entschlossene Bekämpfung jeder Subversion als Gefährdung der nationalen Sicherheit. Unterschiede zwischen orthodoxen Kommunisten, Anhängern der friedlichen Koexistenz, Pro-Maooder Pro-Castro-Revolutionären, aber auch Christen, die sich mit deren Bestrebungen identifizierten, würden nicht akzeptiert.
Die Ausarbeitung des Konzepts erfolgte in der Militärakademie von Rio de Janeiro, deren früherer Kommandant der heutige Präsident ist. Besagte hohe Schule hatte seit jeher ihren großen Einfluß dazu benützt, dem Gedanken eines rein brasilianischen Nationalismus zu dienen.
Die Offiziere der „Unna dura' (der harten Linie) hatten es sich zum Ziel gesetzt, der Geschichte der Nation eine neue Wendung zu geben. Politik macht Geschichte. Aber wie Solschenizyn in ganz anderem Zusammenhang, aber ungefähr zur gleichen Zeit, schrieb: „... Geschichte ist nicht Politik, wo einer das nachplappert oder dem widerspricht, was ein anderer gesagt hat. Das Material der Geschichte besteht nicht aus Ansichten, sondern aus Quellen. Und die Folgerungen, die hängen nicht von uns ab; manchmal sind sie sogar gegen uns...“ („August 1914“, Ausgabe: Langen Müller, Seite 676).
Also zurück zu den Quellen, deren natürlicher Reichtum, wären sie erst erschlossen, dem Land und seinen Menschen nach der strikt nationalistischen Denkungsweise der brasilianischen Militärs den Platz an der Sonne und ein besseres Leben ver-' bürgten. Was folgte, war Arbeit auf dem Reißbrett. Die Ingenieure, Naturwissenschaftler, Architekten hatten das Wort. Aber auch die Hörsäle füllten sich, in denen Soziologen von der unerläßlichen Sofortlösung der sozialen Misere, zumal in den großen Städten und in den weiten unterentwickelten Gebieten des Ostens und Mittelwestens des Landes sprachen, von der Arbeitslosigkeit, und der Ausbeutung der besitzlosen Klasse; streitbare Vertreter der Kirche bezogen Front gegen die Suspendierung der Freiheitsrechte und Willkürakte lokaler Behörden. Massenversammlungen riefen zum Widerstand; die verkündeten Fernziele der diktatorischen Machthaber seien“ Betrug, im besten Fall Illusionen.
Im März 1968 setzten, zumal in Rio, blutige Studenten- und bald auch weitergreifende Unruhen ein. bei denen Hunderte von Menschen das Leben verloren. Der Teufelskreis drahte, in dem Antiterror den Terror jagt und alle Verantwortlichkeit im Chaos zu ersticken droht. Die Militärregierung reagierte scharf und ließ keinen Zweifel daran, daß sie nicht nachzugeben gewillt war; ihre Argumentation: Anarchie sei das größte Übel von allen. Massenverhaftungen setzten ein; brutale Ubergriffe beider Seiten verschärften die Lage Brasiliens im In- und Ausland. Exilpolitiker meldeten sich in der internationalen Presse zu Wort. Und die vorübergehende Verhaftung des Erzbischofs von Re-cife, Dom Helder-Cämara, tat als zusätzliche Sensation ihre Wirkung. Nicht ganz zu Recht übrigens; denn die Verhaftung von Männern der Kirche, zuweilen auch von Bischöfen, war auch in den kolonialen und parlamentarisch liberalen Zeiten Brasiliens nichts Neues.
Die Jahre 1968 und 1969 sahen die Stadtguerilleros am Werk; ihre* Tätigkeit erreichte 1970 mit.der Entr führung des deutschen Botschafters von Holleben und bald darauf des Schweizer Botschafters Bucher sowie eines braslianischen Konsuls in Uruguay ihren Höhepunkt. In allen Fällen wurde von der brasilianischen Regierung die Forderung auf Entlassung von zusammen 110 politischen Häftlingen und die Zahlung eines Lösegeldes erfüllt. Gleichzeitig verlangten die Guerilleros die Veröffentlichung ihres Manifestes, das zum Klassenkampf und Volksaufstand aufrief, durch den Regierungsrundfunk.
Seit Oktober 1969 ist der gegenwärtige Präsident General Medici im Amt. In seiner Antrittsproklamation hieß es: „... es gehe um die Wiederherstellung der Demokratie und um die wirtschaftliche Entwicklung. Das brasilianische Regime sei derzeit durchaus nicht demokratisch. Er wisse aber auch, daß konkrete Lösungen für diese Situation bestünden und er sei fest entschlossen, sie anzuwenden. Er nähre deshalb die Hoffnung, die volle Demokratie in Brasilien endgültig vor Ablauf seines Präsidialmandates wieder herzustellen, indem für alle Zeit jener Zustand beseitigt werde, in dem vor 1964 die Oligarchie versucht habe, mit allen Mitteln Privilegien zu behalten, die man dem Volk geraubt habe. Man wolle die Institutionen nicht abschaffen, sondern sie wahrhaft reformieren. Das sei der einzige Weg, in Brasilien eine wirkliche Revolution durchzuführen. Wir wollen freie Universitäten, freie Gewerkschaften, eine freie Presse und eine freie Kirche...“
So weit ist es heute noch nicht; und es hat nicht den Anschein, als könnte Präsident Medici in seiner Amtsperiode, die nach den derzeit geltenden Bestimmungen nicht mehr allzu lange währt, die gesteckten politischen Ziele erreichen; den wirtschaftlichen ist sein Team um ein großes, ja spektakuläres Stück näher gekommen; auch auf dem zu lange vernachlässigten Erziehungssektor und dem der Agrarreform wird erfolgreiche Arbeit geleistet. Daß es gelingen kann, bei fortschreitender Verbesserung der Lebensbedingungen die Interessengegensätze unter einen Hut zu bringen, ist durchaus möglich. Wahrscheinlich aber auch, daß der gemeinsame Hut bis auf weiteres ein Stahlhelm bleiben wird.
Das Militärregime Brasiliens hat allerdings niemals den Charakter einer zeitlich unbegrenzten Einmannherrschaft angenommen, wie etwa im Argentinien Peröns. Der brasilianische Präsident, nun von der Heeresleitung bestimmt, bleibt in seiner Amtszeit auf vier Jahre beschränkt. Früher wurde er vom Parlament gewählt; allerdings: das Wahlrecht in Brasilien war und blieb in Folge des faktischen Ausschlusses der Analphabeten, ausgenommen in rein lokalen Vertretungskörpern, nach westlichem Maßstab gemessen eher problematisch.
Prognosen zu stellen, ist schwierig. Aber wenn nicht alle Zeichen trügen, dann findet der gewaltsame Umstürz zumindest in vorhersehbarer Zukunft nicht statt. Dies ist alles, was sich drei Jahre nach den turbulenten Guerilla-Versuchen sagen läßt. Die anderswo so beliebten, nachts an die Wände geschmierten, revolutionären Parolen sind verschwunden. Unruhen wären weder erfolgversprechend noch auch populär. Militär sieht man kaum; wohl sehr viel Polizei; — übrigens im Straßendienst, und hier ist hauptsächlich von Rio de Rede, durchwegs Schwarze und Mulatten. Sie hat alle Hände voll zu tun mit der Regelung des enormen und wenig disziplinierten Straßenverkehrs und ist dabei durchaus erfolgreich.
Dabei ist die Lage in Brasilien zur Zeit keineswegs mit dem Bild der oft strapazierten „Friedhofsruhe“ vergleichbar.
Die Großstädte und übrigens auch weite Gebiete außerhalb sind eine einzige ungeheure Baustelle geworden. Damit wurde unter anderem die Arbeitslosigkeit zumindest in den Industriezentren beseitigt, aller dings bei nur langsam ansteigenden, gleitenden Löhnen, die noch keineswegs mit denen anderer Industriestaaten verglichen werden können. Der Kampf gegen das Illiteratentum wird systematisch geführt, und zwar durch Forcierung des Schulbaues und der allgemeinen Schulpflicht, wie auch durch subventionierte freiwillige Erwachsenenbildung. Der Soziale Wohnhausbau macht Fortschritte, wenngleich die „favelas“ noch lange nicht verschwunden sind und immer neue „Bedonvilles“ (Slum-Viertel) entstehen. Die Eigentümer, fast ausschließlich Nachkommen ehemaliger Sklaven afrikanischen Ursprungs, weigern sich vielfach, die ihnen zugewiesenen neuen und modernen Quartiere zu beziehen, und weichen nur dem Zwang, der hier schon aus hygienischen Gründen berechtigt ist. Die Analphabetenrate wird jetzt offiziell mit etwa 25 bis 30 Prozent angegeben, was vielleicht noch zu tief gegriffen sein mag. Ein militantes Rassenproblem, etwa dem der USA vergleichbar, gibt es in Brasilien nicht, ebenso wie es nie eine gesetzliche Segregation gegeben hat. Völlige Integration der Rassen und möglichste Assimilierung wird großgeschrieben, die völlige Gleichbe-berechtigung als Selbstverständlichkeit von keiner Seite bestritten.
Eine der vielen kritischen Stimmen, die aus der Fernsicht ihres chilenischen Exils die Entwicklung verfolgen, ist die einer brasilianischen Nationalökonomin, die das sogenannte „brasilianische Wunder“ schlechthin als „pervers“ beurteilt: ... denn seit 1964 habe es darin bestanden, die relative Lage von 80 Prozent der Bevölkerung (72 Millionen) zu verschlechtern, jene von 15 Prozent (13,5 Millionen) nicht zu verändern, und nur die von 5 Prozent (4,5 Millionen) erheblich zu verbessern ... Wenn die Rechnung stimmt (90,000.000 gleich 100 Prozent), wäre damit noch nicht gesagt, zu welcher Kategorie die weiteren 10,000.000 Menschen zählen, um welche die Bevölkerung mit Ende 1972 zugenommen hat. Der Aufschwung erreichte erst in den letzten zwei Jahren seinen bisherigen Höhepunkt. Die Rechnung könnte stimmen, wenn die in ihrer Zielsetzung unbestrittenen Projekte der Regierung tatsächlich nur auf dem Papier und leere Versprechungen geblieben wären. Sie konzentrieren sich in der Hauptsache auf die Erschließung, Urbarmachung und Besiedlung von Amazonien und des Matto Grosso, sowie auf Landreform und weitere Industrialisierung des an sich zum Teil reichen und fruchtbaren, aber immer noch notleidenden Nordostens.
Die furchterregende Region des weiten Amazonasbeckens hat ein brasilianischer Autor „die letzte Seite des Buches Genesis“ genannt. Der Staat Amazonas allein hat eine Flächenausdehnung von rund 1,559.000 Quadratkilometern und ist daher weiträumiger als Österreich, die deutsche Bundesrepublik, Frankreich, Italien und Spanien zusammen.
Die Militärs bedienen sich zur Planung und Durchführung ihres nationalen Konzepts spezialisierter Fachleute, denen unter Verantwortung der Regierung weithin freie Hand gegeben ist. So bietet das heutige Brasilien dem bestürzten und — es sei zugegeben — bisweilen erschreckten Beobachter das Modellbild einer Technokratie. Frage: Muß diese seelenlos sein?
Auch Technokraten wissen, daß Denken in Kategorien von Naturschätzen und deren Ausbeutung, Investitionen und technischem Fortschritt ins Leere stößt, wenn es nicht den Menschen und deren Bedürfnisbefriedigung dient, und zwar nicht einigen wenigen, sondern der Masse, deren Explosionspotential immer latent bleibt. Dessen sind sich auch die Militärs bewußt, deren stark ausgeprägter und dabei nüchterner bra-süianischer Nationalismus ausländische Interessen unter strikter Kontrolle hält. Ihr Ziel bleibt der Aufstieg Brasiliens zur Großmacht auf dem Weg der raschen Industrialisierung und Modernisierung der noch weithin extensiv betriebenen landwirtschaftlichen Erzeugung. Wird dies erreicht — so rechnet man — finden die brennenden sozialen Probleme ihre Lösung, allen Schichten der Bevölkerung zum Nutzen.
Daher die intensiven Bemühungen um quantitative und qualitative Verbesserung auf dem Sektor Schule und Erziehung. Wenn nicht aus anderen Gründen, dann weil das Land noch einen erheblichen Mangel an Facharbeitern und qualifizierten Kräften für seine technische Entwicklung aufweist. Daher die Bodenreform im Nordosten mit seinen Latifundien zugunsten besitzloser Bauern und kleinbäuerlicher Besitzer: nach einem Dekret vom August 1972 haben Besitzer über 5000 Hektar 50 Prozent, bis zu 5000 Hektar 40 Prozent, und bis zu 1000 Hektar 20 Prozent an das Nationalinstitut für Bodenreform gegen einen festgesetzten Fixpreis zu verkaufen; im Fall der Weigerung wird der Gesamtbesitz enteignet, gegen Entschädigving in Gutschriften des Schatzamtes, die in 15 bis 20 Jahren fällig sind. Die Reform soll 15.000 Bauernfamilien helfen. Mitlerweile hat die Regierung mit ihren Enteignungsdrohungen gegen Widerspenstige Ernst gemacht. 12.000 Kilometer neue Autostraßen sind in Angriff genommen, darunter die Transamazonas Ost-West-Verbindung; damit verbunden die geplante Erschließung reicher Mineralvorkommen, aber auch die Urbarmachung des Landes durch Gründung landwirtschaftlicher Kolonien. Einige tausend Siedler sind bereits am Werk. Jeder Familie wird 100 Hektar Grund, ein Haus und ein zinsenloser Kredit mit 20 Jahren Laufzeit zur Verfügung gestellt. Sie übernehmen die Verpflichtung, das Land nicht zu verkaufen und einen vorschriebenen Wirtschaftsplan einzuhalten; zu ihm gehört die Auflage, nur 50 Prozent des Besitzes landwirtschaftlich zu nutzen, während die andere Hälfte als Waldbestand erhalten bleiben muß. Auch hier gab es kirchliche Interventionen und Proteste zum Schutz menschlicher Grundrechte, in diesem Fall zugunsten des Alten gegen das Neue.
Aber die Bulldozer rollen weiter; entlang der Amazonasstraße verändern Urwelt und Urwald ihr Antlitz. Der große Treck der Siedlerkolonnen vom Nordosten und Süden zieht der Mitte des Landes zu — dem Abenteuer entgegen, das gemessen an der Not der Vergangenheit für sie die Vision eines Traumlandes bedeutet.
Vor mehr als 40 Jahren hat eine Kolonie Tiroler Bauern unter der Führung des ehemaligen Landwirtschaftsministers Andreas Thaler den großen Zug ins fremde Land gewagt. Allerdings in geographisch und klimatisch freundlichere Teile des brasilianischen Südens. Aber auch sie waren zunächst physisch und psychisch einer Zerreißprobe ausgesetzt. Sie haben es geschafft. Andreas Thaler verlor später beim Rettungsein-satz anläßlich eines Brückeneinsturzes das Leben. Die Kolonie besteht und blüht heute noch.
Der Terminkalender der brasilianischen Regierung sieht 1975 als das Jahr der Vollendung vor. Wenn die Rechnung aufgeht, werden sich im Rückblick manche Aspekte von heute ändern. Das Pro-Kopf-Einkommen, das heute noch trotz wesentlicher Erhöhung im Lauf der letzten Jahre nur bei 400 Dollar liegt, würde sich zunächst mindestens verdoppeln. Ob die Rechnung aufgeht... ?
Esperar.