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Die Vorherrschaft der Playboy-Philosophie

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Die sexuelle. Revolution ist das Produkt der industriellen Revolution. Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung sind ihre Voraussetzungen. Denn in ihrem Zusammenhang vollzog sich ein tiefer Wandel des öffentlichen Lebens. Am sichtbarsten kommt dieser in der Auflösung der alten Großfamilie zum Ausdruck. In ihrem Rahmen fand der einzelne seinen Halt, lernte er, was zu tun und zu lassen sei. Daß Sexualität und Ehe zusammengehören, war in dieser Welt unbefragt hingenommene Selbstverständlichkeit. Dem ist aber inzwischen nicht mehr so.

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Die sexuelle. Revolution ist das Produkt der industriellen Revolution. Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung sind ihre Voraussetzungen. Denn in ihrem Zusammenhang vollzog sich ein tiefer Wandel des öffentlichen Lebens. Am sichtbarsten kommt dieser in der Auflösung der alten Großfamilie zum Ausdruck. In ihrem Rahmen fand der einzelne seinen Halt, lernte er, was zu tun und zu lassen sei. Daß Sexualität und Ehe zusammengehören, war in dieser Welt unbefragt hingenommene Selbstverständlichkeit. Dem ist aber inzwischen nicht mehr so.

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Denn wenn Bücher wie der Kinsey- Report zu Bestsellern wurden, wenn Magazine wie „Jasmin“ Millionenauflagen haben, kann man das nicht mit dem Verweis aiuf die lüsterne Neugier der Leser abtun, sondern hat auch das Informationsbedürfnis der Masse mit in Rechnung zu stellen. Die soziale Beliebigkeit, die viele Bereiche unseres Lebens prägt, hat inzwischen auch das Sexualverhalten erreicht; es ist nicht mehr durch feste Sitten abgesichert. Darum sind heute „Orientierungshilfen“ so gefragt.

Wenn auch für viele die gegenwärtige sexuelle Revolution nicht viel anderes ist als Pornographie und Ungebundenheitsphänomene, die mit Händen zu greifen sind, so darf dennoch nicht übersehen werden, daß sich in dieser totalen Erotdsierung auch so etwas wie ein „neues Ethos“ anbahnt.

Sex als Sport

Der Kinsey-Report signalisierte für breite Schichten die gewandelte Einstellung: die Emanzipation des Sexus von der Ehe und der damit verbundenen „alten Moral“. In dem Report geht es zunächst nur um Erhebung eines „empirischen Befundes“: Wie sieht das sexuelle Verhalten des Menschen tatsächlich aus? Doch dieser empirische Befund wird umfunktioniert zu einer positivistischen Philosophie: das Faktum gibt auch die Norm. Die statistische Häufigkeit ist also der Maßstab für die Normalität und deren Gegenteil. Kinsey und seinesgleichen wollen alle idealistischen Versuche, den Menschen hochzuzüchten, als ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen dartun. Die aufweisbare Differenz von Normenskala und Verhaltensskala liefert den Beweis. Auch darin steckt ein Idealismus, wenn auch mit ungewohntem Vorzeichen: Das Ideal der sexuellen Spannungslosigkeit. Ziel vor allem: Jeder soll den ihn befriedigenden Orgasmus haben. Das brutum factum genitaler Entspannung ist Angelpunkt einer derartigen Sexualkultur.

Was Hugh Hefner in seinem Magazin mit Millionenauflage den Lesern als Playboyphilosophie vermitteln möchte, läuft in der Praxis auf das gleiche hinaus; er gibt nur allem mehr Licht und Farbe. Als später Nachfahr Rousseaus glaubt auch Hefner an den in Unschuld geborenen, von der Gesellschaft aber verdorbenen Menschen. Diese zwang den Men schen in das Leistungsprinzip durch Arbeit ein. Die Religion leistete dabei Gespannsdienste. Doch Glück und Lust sind in der Arbeit nicht zu finden. Der Sexus jedoch verheißt beides. In seiner Hochform gehören zum Sexus „Love and Adoration“. Ist keines von beiden da, bleibt immer noch genug Spaß an der Sache. „Sex with love may be the best kind of sex, but sex without love is better than no sex at all!“ doziert er. Von einer Verantwortung für andere sagt Hefner nichts. Denn das „fully productive and pleasurable life“ eines Playboys hängt nicht vom Einsatz für andere ab, sondern vom Vergnügen für sich.

Um Sex ails Spiel und Sport geht es auch in der Heilslehre, die Alex Comfort anzubieten hat. Schon der Titel seines 1968 auch deutsch erschienenen Buches „Der aufgeklärte Eros, Plädoyer für eine menschenfreundliche Sexualmoral“ umreißt das Programm: Absage an die alte Moral, ihre menschenunwürdige Unterdrückung des Sexus. Der Homo faber soll dem Homo Ludens weichen. Spiel und Spielraum ist die Sexualität. Sie ist das !M^d5niKi!dör Selbstverwirklichung und des Lustgewinnes. Darum darf auch keine Form sexuellen Verhaltens als anstößig und abnormal angesehen werden, solange nicht feststeht, daß sie für die Ausübenden selber oder deren Mitmenschen schädlich ist. Immerhin taucht hier ein moralischer Begriff auf: Verantwortung. Comfort leugnet also den Zusammenhang von Moralität und Sexualität nicht. Seine

Moral, eine Art goldene Regel, die jeder einzuhalten vermag, ist freilich auf ein Minimum reduziert: Verantwortung füreinander und (so vorhanden oder unterwegs) für das Kind. Er gibt auch zu, daß die Sexualität irgendwie doch auf Ehe hin angelegt ist.

Repression — Revolution

Die neue sexuelle Moral, die Comfort und andere anzuhieten haben, ist ohne Freud nicht denkbar; zu einem Politikum aber wurde die Sexualität durch die marxistische Gesellschaftskritik. In der gegenwärtigen Sexualrevolution reichen sich Freud und Marx die Hand. Beide werden in der gegenwärtigen marxistischen Gesellschaftskritik wirksam.

Ein wichtiges Werk auf dem Wege dazu ist das 1969 unter dem Titel „Die sexuelle Revolution“ neu herausgebrachte Buch Wilhelm Reichs aus dem Jahre 1936. Das Werk wurde zeitweise zu so etwas wie einer Fibel der neuen linksradikalen Protestbewegung. Mit Freud sieht Reich in der Sexualität die produktive Lebensenergie schlechthin. Ihre Unterdrückung bedeutet Störung aller Lebensfunktionen. Sexualunterdrük- kung schafft vor allem Untertanengeist. Das Kartell von Gesellschaft (Wirtschaft, Staat) und Kirche sei darum an der Sexualunterdrückung interessiert. Will man aber das bisherige (kapitalistische) gesellschaftliche System beseitigen, dann müssen auch die bisherigen Sexualnormen durchbrochen werden.

Reich will den Psychologismus (= seelische Kräfte machen Geschichte) mit dem marxistischen Ökonomismus (= Technik macht Geschichte) verbinden. Bi beiden sieht er Funktionen einer erst noch zu gestaltenden höheren Einheit. Alles in allem ist also der Sex ein Politikum ersten Ranges. Religion und Gesellschaft bedrohen ihn und in ihm auch die Ausbildung einer „neuen Moral“, in der sich die Spannung von sexuellem Bedürfnis und Befriedigung von selber regulieren wird.

Diese Selbstregulierung stellt sich Reich ziemlich einfach vor. In der kommenden ÜberflußgeseUschaft, in der jeder alles haben wird, gilt das Gebot der repressiven Ausbeutermoral „Du sollst nicht stehlen“ nicht mehr. Ähmlieh wird es der gleich repressiven Formel „Du sollst nicht Unkeuschheit treiben“ ergehen. Denn wer befriedigt lebt, der vergewaltigt nicht und braucht darum auch gegen .ein solches Verlangen keine Verbotstafel mehr.

Gesellschaftsikritik und utopischer Ausblick in eine total andere Zukunft bestimmen auch das Denken von Herbert Marcuse, der auf die studentische Bewegung einen nicht geringen Einfluß ausübt. In „Eros und Kultur“ und in „Der eindimensionale Mensch“ übt er zunächst dramatische Sozialkritik an der gegenwärtigen sexuellen Freiheit. Reich entrollte noch die Banner für diese Revolution, die den neuen gesellschaftlichen Zustand heraufführen würde. Die sexuelle Freiheit äst inzwischen gekommen, das „Ausbeutersystem“ aber nicht verschwunden. Marcuse bringt beides in einen Zusammenhang. Die neue sexuelle Freiheit ist das Produkt der Technik. In diesem technischen Prinzip triumphieren Leistung und Arbeit. Das Lustprinzip ist vom Leistungsprinzip vereinnahmt oder nur soweit freigesetzt, als es jenem förderlich ist. Das Leistungsprinzip hat das Lu st prinzip korrumpiert. Aus den Verheißungen des lustbetowten Eros, der immer auch nonkonformistische Sublimierung bedeutet, wurde der bloße und entsuiblamierte Sexus; er degenerierte zur sexuellen Freizügigkeit. Und zwar im Rahmen der gegenwärtigen Gesellschaft, die mittels der zugestandenen und geförderten sexuellen Libertinage, die sie in kommerzieller Raffinesse ausnützt,

die Masse im systemgerechten Konformismus bindet.

Gegen diese unter die genitale Vorherrschaft gezwungene Sexualität protestiert Marcuse. Das Verhältnis von Lust- und Leistungsprinzip muß neu durchdacht werden. In einem energischen Lernprozeß muß die Heranwachsende Generation es dazu bringen, daß das Lustprinzip wieder an der ersten Stelle steht. Daß totaler Eros in totaler Freiheit möglich wird. Der Weg dazu: die Vernunft wieder versinnlichen und nicht als Gegensatz zur Sinnlichkeit gelten lassen. Ist erst einmal diese Art von libidinöser Vernunft geschaffen, wird der Mensch zu der ihm angemessenen Daseinsform gefunden haben.

Mit Marcuse kritisiert die gegenwärtige radikale Linke schonungslos die herrschende bourgeoise Sexwelle. Reimut Reiche setzt sich in seinem Buch „Sexualität und Klas- senkampf“ ausdrücklich mit der Re- pressivität dieser sexuellen Freizügigkeit auseinander. Sie dient zu nichts anderem, als das spätkapitalistische System zu erhalten. Reiche sieht sich also gezwungen, einzugestehen, daß Wilhelm Reich und seinesgleichen die sozialen und politischen Garantien, die von einer voll entfalteten Sexualität ausgehen würden, überschätzt haben. Was er sel ber zur voll entfalteten Sexualität zu sagen hat, bleibt — wenigstens für unsereinen — unklar.

Deutlich ist nur die Betonung des Widerstandes gegen die Denaturali- sieruiig von Sex als Genuß. In dieser Beziehung sind die heutigen „Linksaußen“ hellsichtige und scharfe Kritiker von Playboyträumen und Com- fortscher „Freude durch Lust“. Der moralische, der öffentliche Charakter des Geschlechtslebens wird betont. Sex ist mehr als Freizeitsport. Er ist kein Privatissimum, er ist ein Politikum. Die Sexualität muß also sozialisiert werden. Es geht um Wiederherstellung der durch die kapitalistische Eigentumsideologie zutiefst gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen. Alle Relikte einer bürgerlichen Geschlechtsmoral müssen auf dem Weg zu diesem Ziele zuerst beseitigt werden. Wenn nicht alles täuscht, ist die Kommune das Ziel. Denn in dieser bilden sich neue zwischenmenschliche Beziehungen auf völlig neuer Grundlage heraus. Die alte bourgeoise Begriff! ichkeit — Ehe, Vater, Mutter — gilt in ihr nicht mehr.

Agape oder Ausbeutung?

Im Kontext der aufgezeigten Aufbrüche, die die industrielle Revolution zur Voraussetzung haben, muß auch die Umorientierung der christlichen Sexualmoral gelesen werden. Als „neue Moral“ hat sie in der Zwischenzeit auch Schlagzeilen gemacht. Am bekanntesten wurden in dieser Beziehung der anglikanische

Bischof John Robinson und der amerikanische protestantische Theologe Joseph Fletscher. Der Eigenwert des Geschlechtlichen wird stark betont. Sexus ist mehr als bloße Zutat zum Menschsein. Er ist der Spielraum menschlicher Selbstverwirklichung. Als „responsible sex“ aber ist die Geschlechtlichkeit stärkstens auf den Nächsten hin bezogen. Es geht um „Verantwortung für“. Die Gefahr der Ausbeutung des anderen Menschen wird gesehen. Exploitation ist in der „neuen Moral“ überhaupt ein wichtiger Begriff. Was bei Comfort nur als Minimalforderung anklingt, das wird hier zu einem Maximum gesteigert. Sexus und Eros stehen in allem unter der Forderung der Agape. Diesen wichtigen biblischen Begriff deutet die „neue Moral“ hauptsächlich als Mitmenschlichkeit. Diese bildet also die oberste und einzige Norm für die konkrete Gestaltung des geschlechtlichen Lebens. Doch diese Agape ist kein Gesetz mehr, sondern das Prinzip eigener Selbstverwirfeiicbung. Im Tun der Agape wird die Authentizität des eigenen Lebens gewonnen.

Konkrete Verhaltensvorschriften gibt diese „neue Moral“ also keine mehr. Ob man vor der Ehe „darf oder nicht“, ist eine unangemessene und gesetzliche Fragestellung. Es geht in jedem Einzelfall immer um die Absicht und die Verantwortbar- kedt derselben. Fletschers Ausführungen könnten streckenweise auch von Hefner geschrieben sein: das Recht auf erotischen Lustgewinn wird sehr stark betont. Die Erfahrung des Eigengehaltes der Sexualität wird unterstrichen Doch der Unterschied ist dennoch nicht zu übersehen. Bei Hefner geht es um die Luststeigerung des einzelnen, um einen ungebundenen „Freizeit sport“. Bei Fletscher dagegen meldet sich in allem der „responsible sex“: Glück nur durch die du-bezogene Agape. Das Sexualleben wird also in den Dienst eines anderen Wertes einbezogen. Darüber kam es zwischen Hefner und den Vertretern der „neuen Moral“ zu einer heftigen Kontroverse. Auch Ernst Eli — hierzulande bekannt geworden durch sein Referat auf der Weihnachtsseelsorgertagung — kritisiert die „neue Moral“, die zwar den Eigengehalt der Sexualität zu betonen scheint, diesen aber in Wirklichkeit unter der Hand wieder „verkauft“.

Die Sexualität faltet sich aus in drei Sinngehalte: Eigengehalt des

Geschlechtlichen, Ausdruck ehelicher Liebe, Hinordming auf das Rind. Die von der alten Moral emanzipierte bürgerliche Gesellschaft des Westens scheint nur mehr vom Eigengehalt fasziniert zu sein. Sexuelle Libertinage ist Truimpf. Sie erhält gegenwärtig sogar von den Linksradikalen aus taktischen Gründen kräftige Schützenhilfe. Denn ihr kann es nur nützlich sein, wenn von möglichst vielen Seiten her die letzten Relikte einer christlichen Sexualmoral radikal destruiert werden. Erst auf ihren Trümmern kann dann die neue sozialistisch-humanistische Sexualmoral aufgebaut werden. Die an der christlichen Überlieferung orientierten Moraltheologen aber versuchen in immer neuen Ansätzen den Zusammenhang aller drei Sinngehalte zu bedenken. Von einem Konsens der Auffassungen kann aber zur Zeit keine Rede sein.

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