7016532-1988_28_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Vorherrschaft des neuen Denkens

19451960198020002020

Nowosti machte es möglich: Direktdraht nach Moskau. Am anderen Ende: Professor Wjatsches-law Daschitschew, Vordenker einer neuen sowjetischen Außenpolitik. Ins neue Denken mischt sich aber alter Geist. Für Daschitschew sind Flüchtlinge über die Berliner Mauer etwa noch immer „Wahnsinnige“.

19451960198020002020

Nowosti machte es möglich: Direktdraht nach Moskau. Am anderen Ende: Professor Wjatsches-law Daschitschew, Vordenker einer neuen sowjetischen Außenpolitik. Ins neue Denken mischt sich aber alter Geist. Für Daschitschew sind Flüchtlinge über die Berliner Mauer etwa noch immer „Wahnsinnige“.

Werbung
Werbung
Werbung

FURCHE-Gespräch mit Wjat-scheslaw Daschitschew über Perestrojka und ihre Folgen

FURCHE: Sie haben kürzlich Aufsehen erregt, als Sie von der Möglichkeit des Falles der Berliner Mauer sprachen. Wie haben Sie das konkret gemeint?

WJATSCHESLAW DASCHITSCHEW: Eine diesbezügliche Frage ist bei einer Pressekonferenz in der Sowjetischen Botschaft in Bonn gestellt worden. Ich habe darauf in dem Sinn geantwortet, wie dies Erich Honek-ker bei seiner Reise in die Bundesrepublik Deutschland getan hat: Die Grenzen in Europa sind nicht so, wie sie sein sollten. Daher muß man internationale Bedingungen schaffen und Voraussetzungen, damit die Prinzipien der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und der Achtung der jeweils anderen sozialen Ordnung eingehalten werden.

FURCHE: Was heißt das konkret auf die beiden deutschen Staaten bezogen?

DASCHITSCHEW: Unsere sowjetische Politik geht davon aus, daß zwei deutsche Staaten existieren, eine Realität, von der man nichts abstrahieren kann.

Wie sich deren Beziehungen in absehbarer Zukunft entwickeln werden, hängt von den Rahmenbedingungen der Weitergestaltung internationaler Beziehungen ab.

Ich denke, daß wir jetzt am Anfang einer neuen Periode der Ost-West-Beziehungen stehen. Das ist eine erfreuliche Periode, eine neue Ära der Entspannungspolitik. Und diese wird zu Erleichterungen in der Frage der Grenze zwischen den zwei deutschen Staaten führen.

Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik betreibt zur Zeit eine sehr vernünftige Politik. Es wurden schon viele Erleichterungen geschaffen, was Mauer und Ausreisen in die Bundesrepublik betrifft. Im vorigen Jahr hat ein Drittel der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik die Bundesrepublik besucht. Das führte zu zufriedenstellenden Ergebnissen, milderte die Lage und entschärfte sie richtig.

FURCHE: Aber noch immer werden Menschen von der Berliner Mauer heruntergeschossen.

DASCHITSCHEW: Das ist eine souveräne Angelegenheit der Deutschen Demokratischen Republik. Ich selber zweifle, ob es solche Wahnsinnige gibt, die sich zu so einer Flucht über die Mauer entschließen. Wir haben aus dem langen Ost-West-Lernprozeß sehr wohl unsere Lehren gezogen. Und es wird alles vermieden, was die jetzigen Beziehungen belasten könnte. Zwischenfälle müssen mit politischen Mitteln bewältigt werden. Das ist der neue Schwerpunkt: Wir setzen auf politische Mittel.

FURCHE: Kritiker sehen darin nur eine Taktik zu Schwächung der Nato.

DASCHITSCHEW: Wir müssen die Bedrohungssituation auf beiden Seiten beseitigen, damit keine Seite mehr Angst hat. Das hat auf der Grundlage von Gegenseitigkeit zu geschehen. Es ist nicht Politik der Sowjetunion, die Nato zu unterminieren.

Wir setzen aber auf bessere Grundlagen der Stabilität in Europa, indem wir Defensivsysteme befürworten — auf einem möglichst niedrigem Rüstungsniveau —, damit eine Nichtangriffsfähig-keit zustande kommt.

Ich meine sogar, daß wir hier einseitige Schritte unternehmen könten, indem wir Assymetrien — etwa bei den Panzerwaffen, wo wir höher liegen als die Nato — beseitigen. Das wird Vertrauen stärken.

Die Nato wäre uns schuldig, später uns gegenüber ebensolche Schritte zu setzen. Es gilt, eine Situation zu schaffen, wo Nichtan-griffsfähigkeit besteht, dann wären beide Blöcke oder Militärstrukturen überholt.

Unsere Politik strebt danach.Das läuft nicht den Interessen Europas oder der USA und Kanadas zuwider.

FURCHE:Nach wie vor bestimmen aber Interessensphären die Politik der Supermächte.

DASCHITSCHEW: Gegenwärtig darf man nicht mehr in diesen Kategorien denken. Nationale Interessen — ja, die muß man berücksichtigen; die der USA genauso wie die der Sowjetunion. Diese Interessen darf man nicht verletzen.

Die Teilung der Welt in Interessensphären ist jedoch obsolet geworden. In unserem Atomzeitalter, unter diesen zivilisierten Beziehungen darf es darüber keine Diskussion mehr geben. Die Einflußnahme auf Interessen fremder Völker wäre falsch und für die internationale Lage destruktiv.

Ich bin schärfster Gegner des Denkens in Interessensphären.

FURCHE: Dieses neue außenpolitische Denken hängt doch sehr von der innenpolitischen Situation in der Sowjetunion ab. Im Westen herrscht noch Mißtrauen gegenüber der Stabilität des Umgestaltungsprozesses.

DASCHITSCHEW: Nicht alle westlichen Politiker verspüren Zweifel gegenüber den Zielen der Perestrojka. Es wäre falsch, darin eine Gefahr zu erblicken. Es kann keine Rede davon sein, daß Perestrojka nur eine sowjetische Taktik ist. Sie ist auf lange Sicht angelegt, in der das neue Denken Vorherrschaft gewinnt.

Aus dem von Ihnen genannten Mißtrauen — Henry Kissinger steht symbolisch dafür — resultiert die Unentschlossenheit und Unentschiedenheit der Nato in der Rezeption unserer Ideen. Der Westen hat sich als unvorbereitet gegenüber unseren Ideen erwiesen. Daher ist er auch zu unentschlossen.

Meines Erachtens könnte es schon größere Fortschritte - auch in der konventionellen Abrüstung — geben und auch schnellere Erfolge. Es liegt aber nur am Westen und an der Nato.

Es entspricht nicht mehr der internationalen Lage, die momentanen Chancen beiderseits nicht auszunützen. Wir bieten jedenfalls einen Anlaß dazu.

FURCHE: Werden sich Ihre Nationalitätenprobleme auf die Außenpolitik auswirken?

DASCHITSCHEW: Diese Probleme stecken schon lange im Körper unseres Landes.

Die Stabilität des Riesenreiches wird aber nicht durch lokale Probleme, wie beispielsweise in Berg-Karabach, erschüttert. Das muß auf demokratische Weise gelöst werden—im Obersten Sowj et, und dann gehören die erforderlichen Maßnahmen durchgesetzt, damit die Frage zur allgemeinen Genugtuung gelöst werden kann.

Anders gelagerte Probleme gibt es in den baltischen Republiken. Man muß hier eine Situation schaffen, daß sich die Völker des Vielvölkerreiches geistig und materiell wohl fühlen und keine Gegensätze mehr entstehen.

Wir legen jetzt großen Wert darauf, den Nationalrepubliken eine große Eigenständigkeit zu geben — auch den baltischen Republiken. Das wird zur Lösung des nationalen Problems und zur Entwicklung der Republiken beitragen.

Viele Gebiete werden eine neue Selbständigkeit erhalten. Das Prinzip des Föderalismus muß eingehalten werden. Durch den bürokratischen Zentralismus des Stalinismus wurden auf diesem Gebiet in wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht viele Fehler begangen.

FURCHE: Bedarf es zum Umdenken nicht auch einer neuen Erziehung? Die junge Generation muß das neue Denken doch erst lernen.

DASCHITSCHEW: Mit der jetzigen Schulreform sind nicht alle einverstanden. Der Schwerpunkt liegt jetzt auf eigenständigem Denken, auf persönlicher Aktivität. Es geht um eine Erziehung zur Qualität. Damit sich der Mensch als Persönlichkeit entwickeln kann — und zwar auf allen Gebieten.

Früher war es so, daß man den Menschen erzog, Weisungen von oben auszuführen. Es gab keine Selbständigkeit der Person. Im Zeitalter der technischen, kosmischen und medialen Revolution sind solche Eigenschaften passe.

Wir brauchen moralisch-ethische Werte, die der menschlichen Würde und Freiheit entsprechen^ das ist die Konzeption von Perestrojka.

FURCHE: Ein anderes Thema: Welche Rolle sollen die Neutralen im Ost-West-Gefüge und zu Europa künftig spielen?

DASCHITSCHEW: In einem gemeinsamen europäischen Haus müssen die Werte des Ostens und des Westens anerkannt werden. Ich kann mir ein europäisches Haus beispielsweise nur schwer vorstellen, wenn es sich bloß auf die Prinzipien der EG stützt.

Man muß die Vielfalt der europäischen Völker und Traditionen anerkennen. Auf dieser Basis kann ein gemeinsames Haus entstehen.

Hier spielen die Neutralen und Blockfreien eine bedeutende positive Rolle: Sie haben eine Brük-kenfunktion. Es gut Gegensätze zu mildern und Wege zur Verständigung zu finden, nicht nur in Fragen der Abrüstung—Wien kommt hier ja eine besonders bedeutende Rolle als Standort internationaler Gremien zu -, sondern auch in Menschenrechtsfragen und Fragen der Wirtschaftsbeziehungen.

Es kommt künftig auf die Tolerierung von Unterschieden an. Alle Gesellschaften ändern sich, und was früher typisch war, ist jetzt grundsätzlich anders. Wir sind viele, durch den Stalinismus heraufbeschworene destruktive Erscheinungen losgeworden.

Wir nähern uns einander in bestimmten Bereichen an. Die Strukturen nähern sich.

FURCHE: Und was bleibt als Unterschied?

DASCHITSCHEW: Vielleicht der Charakter des Eigentums, obwohl es auch hier — mit der Einführung der Genossenschaften bei uns — Änderungen gibt.

Bei uns gehen interessante Prozesse vor sich, die zu einer Annäherung der Strukturen führen, wodurch Vertrauen und Zusammenarbeit gestärkt werden.

Mit Professor Wjatscheslaw Daschitschew, Leiter der außenpolitischen Abteilung im Institut für Wirtschaftsfragen an der Moskauer Akademie der Wissenschaften, telefonierte Franz Gansrigier.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung