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Die Wahrheit ist pluriform und nur annäherungsweise erreichbar

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Die Wahrheit ist pluriform und nur annäherungsweise erreichbar. Sie wird von verschiedenen Seiten und in aufeinanderfolgenden Schritten angenähert, wie es auch die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes deutlich zeigt. Wir machen Fortschritte. Manchmal so gewaltige wie Newtons Physik, die eine ganze Epoche der westlichen Zivilisation geprägt hat Und doch war es nur ein Teil der Wahrheit und doch erwiesen die Experimente und die Einsteinsche Relativitätstheorie Newtons Physik als falsch in höchsten Geschwindigkeitsbereichen.

Die Wahrheit ist nur annäherungsweise erreichbar. Hätten wir einmal die volle Wahrheit in Besitz, wir wüßten es nicht einmal, weil uns der Vergleichsstandard fehlt Das sprachen die Philosophen von Xenophanes bis Popper mit Nachdruck aus.

Umso wichtiger ist es, die zu einer Frage möglichen komplementären Standpunkte kritisch zu würdigen, den jeweils enthaltenen Wahrheitsgehalt herauszudestillieren, durch Versuch und Irrtum zu lernen und für jeden Fortschritt dankbar zu sein. Dieser kritische Pluralismus, diese kritische Berücksichtigung verschiedener einander ausschließender und dennoch ergänzender Standpunkte ist die Leitlinie unserer zivilisierten Gesellschaft das Rückgrat der Demokratie.

„Wir sind hier im Parlament nicht nur, um den eigenen Standpunkt zu vertreten, sondern aüch, um den gegnerischen verstehen zu lernen“, sagte Karl Renner in der Ersten Republik. Leider war damals der kritische Pluralismus noch nicht weit genug entwik- kelt. Utopische Monisten auf der politischen Bühne, deren alleinseligmachende Heilslehre unwidersprochen angenommen werden muß, apodiktische Dogmatiker der Ideologie erleben wir noch immer. Ihnen wird die Zukunft nicht gehören, in der sich die geistige Entwicklung der Menschheit vollzieht, auch wenn sie vorübergehend viel Macht durch die Gefolgschaft fanatisierter Massen in ihrer Hand sehen.

Im Sinne des kritischen Pluralismus aber wird man fragen: Käme ich unter den gesetzlichen Milieu- und Geschichtsverhältnissen meiner politischen Gegner auch zu ihren Schlüssen? Kann ich ihren Standpunkt verstehen? Was kann ich daraus für meinen eigenen lernen? Wie läßt sich mit Vernunft ein Übereinkommen erzielen?

Auf weltanschaulich-religiösem Gebiet ist die bezogene Stellung meist durch Geburt und Umgebung bedingt. Die Glaubensinhalte sind von Natur aus absolut gesetzt Trotzdem hat das Wort von der „Alleinseligmachenden Kirche“ im Laufe der Jahrhunderte eine tiefgreifende Bedeutungsänderung erfahren. Nun versteht sich die Kirche im weiteren Sinne als Gemeinschaft aller Menschen guten Willens. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche in neuer Weise dem kritischen Pluralismus erschlossen und die Werte anderer Religionen, den christlichen ökumenis- mus, die Verschiedenheit von Standpunkten im innerkirchlichen Bereich anerkannt. Eine fast zwei Jahrtausende alte Institution ringt um ein neues, durch den kritischen Pluralismus mitgeprägtes Selbstverständnis.

Komplementarität ist das Vorhandensein einander ausschließender, aber auch ergänzender Aspekte oder Standpunkte zu einem Thema. Kritischer Pluralismus ist nicht die Vielfalt dieser Standpunkte, sondern er ist bereits die kritische Würdigung dieser Standpunkte mit ihren entsprechenden Bedingungen. Kritischer Pluralismus bedeutet umfassendes Verständnis, aber er bedeutet auch Wertung, wo zu werten ist. Ein überlegt und sicher bezogener eigener Standpunkt ist Voraussetzung dafür, daß man anderen Standpunkten gerecht wird.

Toleranz ist wichtig, aber sie ist als agnostisches Laisser-faire zu unverbindlich, zu uninteressiert. Man muß den eigenen Standpunkt klarstellen, den anderen zu verstehen suchen und mit Vernunft ein Übereinkommen anstreben.

Als diese Grundregel demokratischen Verhaltens zeigt sich der kritische Pluralismus in der Lohn-Preis- Politik. Der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer läuft im allgemeinen auf eine Machtprobe hinaus. In vergangenen Jahrhunderten lag die Macht in Händen der privilegierten Stände, war der Arbeitnehmer auf Gerechtigkeitssinn und Vernunft seiner Dienstgeber angewiesen, und diese ließen ihn oft genug im Stich.

Die Szenerie hat sich inzwischen gründlich geändert. Nicht mehr das Erpressen höchstmöglicher Gewinne bestimmt heute die Lohn-Preis-Poli- tik, sondern ein vernünftiger Ausgleich wird in harten Verhandlungen der Sozialpartner angestrebt. Heute sind die Gewerkschaften der Arbeitnehmer die Mächtigen und haben damit ein hohes Maß an sozialer Verantwortung übernommen. Verantwortung muß die Lohnforderungen auf ein vernünftiges Maß bringen und die Arbeitsmoral bestimmen. Verantwortung muß aber auch die Preise regeln und die Arbeitswelt humanisieren. Führt der Zwang der Verhältnisse zum kritischen Pluralismus? Bestimmt dieser wieder die Verhältnisse? Wer an den Fortschritt der Menschheit glaubt, wird diese fundamentale Wechselwirkung bejahen.

Dem kritischen Pluralismus entspricht es, wenn man die Kuh, die man melken will, nicht schlachtet. Er’ rät zur Versachlichung des Konflikts durch kühle Rechnung, durch wirtschaftswissenschaftliche Analyse, und zu einem weitblickenden Denken, dem nicht der Klassenhaß die Scheuklappen aufgesetzt hat.

Nicht gerade Klassenhaß, aber doktrinäres Demokratisierungsdenken ist bei dem vor zwei Jahren erlassenen Universitätsorganisationsgesetz Pate gestanden. „Die Macht der Ordinarien zu brechen“ war ein erklärtes Ziel der Verfasser.

Die wissenschaftlichen Leistungen der österreichischen Hohen Schulen seit der Thun-Hohensteinschen Liberalisierung konnten sich weltweit sehen lassen. Erbringer dieser Leistungen waren im allgemeinen die Professoren. Schon durch Habilitation und Berufungsverfahren gesiebt, widmen sie der Wissenschaft und ihrer Lehre ihre Lebensarbeit, ihre gesamte berufliche Existenz, während die Studenten eben eine Lernphase von ein paar Jahren durchlaufen und zum überwiegenden Teil der Institution nach abgeschlossener Studienzeit Lebewohl sagen. Die Assistenten wieder, unentbehrliche Helfer in Lehre und Forschung, entscheide?! sich in dem dem Studienabschluß folgenden Jahrzehnt, ob sie die akademische Laufbahn anstreben wollen und können, und erreichen in diesem Fall mit der Habilitation oft eine wissenschaftlich hochaktive Phase. Konnte bei dieser Lage des Existenzeinsatzes und der Sachverstandsverteilung die Universität den Professoren wirklich nicht mehr länger anvertraut werden?

Sicher war der Mitbestimmung ein funktions- und qualifikationsgerechtes Feld einzuräumen. Sicher war eine rationale Entscheidungspolitik der Kollegien und Institute bei sonstigem Kompetenzverlust zu fordern, sicher war die Tätigkeit der Universitätsver- waltung auf eine solide Basis zu stell- len. Aber mußten deshalb alle entscheidenden Gremien in starre Paritäten verschnürt werden?

Wenn sich der Universitätsbetrieb dennoch konstruktiv gestaltet,

• so deshalb, weil das Konsensdenken immer noch gegen den Gruppenegoismus überwüegt,

• so deshalb, weil das Bestreben in Forschung, Lehre und Studium Ganzes zu leisten, immer noch Grundsatz der Mehrheit von Lehrenden und Lernenden ist,

• so deshalb, weil eine sachkundige und tatkräftige Verwaltung immer noch gesetzeskonforme und doch praktikable Lösungen findet.

Komplementarität der Standpunkte also, wohin man blickt. Der Begriff, einer Grundlagendiskussion der Quantentheorie entliehen, paßt auf die gegensätzliche Vielfalt der Standpunkte in vielen Bereichen: politische Parteien, Weltanschauungen, Sozialpartner,. Gruppen der Universität, Universitäten und Wissenschaftsministerium. Komplementarität der Standpunkte kommt in den besten Familien vor und soll in ihnen bestehen, denn nicht nachbetender Konformismus, sondern Originalität des Denkens bringt Fortschritt. Komplementarität ist dann fruchtbare Fülle, wenn kritischer Pluralismus der Verschiedenheit auf den Grund geht, wenn er wägt und wertet und die Synthese sucht, wohl wissend, daß diese in Vollkommenheit letztlich unerreichbar ist, und umso eher geneigt zum praktikablen Kompromiß. Denn wer die kleinen Schritte auf dem Wege zur vernünftigen Lösung verachtet, hat schon so oft einen großen ins Leere getan.

Kritischer Pluralismus ist entscheidend für den Fortschritt in der Befreiung des Menschen von Zwängen jeder Art, für den Fortschritt des Menschen auf seinen Weg zur Wahrheit, für den Fortschritt des Menschen in seinem Menschsein.

(Auszug aus der Inaugurationsrede am 28. Oktober 1977)

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