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Die Welt als Stimulans

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München, von blutigem Spiel entweiht, bietet dennoch teils vorbildlich selektive, teils übersättigte Ausstellungspanoramen und als zentrales Ereignis die Ausstellung „Weltkulturen und moderne Kunst“. Bildwerke der Weltkunst, erlesen, in dieser Qualitätsspitze kaum noch zu vereinen, sind zu weltweitem Dialog versammelt, die Zündkraft der Malrauxschen Ideenwelt läßt sich erneut überprüfen. 25 Jahre nachdem sein Terminus „musee imaginaire“ erstmals die Kunstdebatte international beunruhigte, sollte man im Wien eines Josef Strzy-gowski Offenheit für den Dialog der „Stimmen der Stille“ voraussetzen. Bis 30. September kann im Haus der Kunst in Spontankontakt vor den Kunstwerken die Kraft ihrer Präsenz erprobt werden. In kühner, wahrhaft olympischer Konzeption soll eine Konfrontation außereuropäischer Kunstwerke mit der europäischen Moderne neue Denkanstöße provozieren. Spektren eines unausschöpflichen dialogischen Prozesses kann der Schauende durchwandern, von motivischem und formalem Stimulans bis zu kreativer Anverwandlung des Formengutes als autonome Antwort des Künstlers. Dialoge über Zusammenhänge der Kunst.

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München, von blutigem Spiel entweiht, bietet dennoch teils vorbildlich selektive, teils übersättigte Ausstellungspanoramen und als zentrales Ereignis die Ausstellung „Weltkulturen und moderne Kunst“. Bildwerke der Weltkunst, erlesen, in dieser Qualitätsspitze kaum noch zu vereinen, sind zu weltweitem Dialog versammelt, die Zündkraft der Malrauxschen Ideenwelt läßt sich erneut überprüfen. 25 Jahre nachdem sein Terminus „musee imaginaire“ erstmals die Kunstdebatte international beunruhigte, sollte man im Wien eines Josef Strzy-gowski Offenheit für den Dialog der „Stimmen der Stille“ voraussetzen. Bis 30. September kann im Haus der Kunst in Spontankontakt vor den Kunstwerken die Kraft ihrer Präsenz erprobt werden. In kühner, wahrhaft olympischer Konzeption soll eine Konfrontation außereuropäischer Kunstwerke mit der europäischen Moderne neue Denkanstöße provozieren. Spektren eines unausschöpflichen dialogischen Prozesses kann der Schauende durchwandern, von motivischem und formalem Stimulans bis zu kreativer Anverwandlung des Formengutes als autonome Antwort des Künstlers. Dialoge über Zusammenhänge der Kunst.

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Seit 1968 arbeitet Professor Siegfried Wichmann mit seinem Expertenstab an der Realisierung dieser Repräsentativschau, um die ambitiöse „Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro- und Indo-Amerika“ zu brisantem Wechselgespräch der Künste zu gestalten. Die Ausstellung gliedert sich in drei große Abteilungen : Orientalismus, Einflüsse des Fernen Ostens, Anregungen Afrikas, Ozeaniens und Indo-Ameri-kas. Die Orientmode des 19. Jahrhunderts überschneidet sich mit dem Japonismus, die „Primitive Kunst“ nach 1900 löst die Dominanz der ostasiatischen Einflußsphäre ab, bis japanische Architektur, Tuschemalerei und Kalligraphie erneut gegen die Jahrhundertmitte bis zur Gegenwart zentrale Bedeutung gewinnen. Einander überlappend ergeben sich „kulturgeographische Querschnitte und kunstgeschichtliche Längsschnitte“.

Ein wissenschaftlich extensives Katalogwerk (2349 Katalognummern, 664 S; 795 Abb.) erhellt die Souveränität der Ausstellungsgestaltung, die durchdachte Systematik der Entgegensetzungen; die Illustration bringt nochmals die Gegensatzpaare, einander gegenübergestellt können sie überprüft, auch in Frage gestellt werden. Die sprachmächtigen Einleitungsessays, illustre Namen, divergierend im Standpunkt, im Niveau, spiegeln die Komplexität der Problemkreise. Sie sollten zu Impulsträgern wegweisender Diskussionen der Forschung und Fachwelt werden. (Unabhängig von aller Didaktik aber erschließt sich das Hic-et-nunc-Er-lebnis, die genießerische Freude an der Schönheit einzelner Werke.) Internationale Museen rivalisieren als

Leihgeber mit exklusiven Privatkollektionen oder Künstler selbst trennen sich von beispielhaften Werken.

Von den farbgesättigten Kimonostilleben Monets und Whistlers, die um die kurvilinearen Rhythmen des „Schreitenden Stehens“ der grazilen Kurtisanenvorbilder des Japanholzschnittes bemüht sind, wendet man sich zu „Japonaiserien“ van Goghs, die (in ikonenhafter Übertragung) die ungebrochen leuchtende Farbkraft Hiroshiges erproben. Oder die „Brücke“ als Thema im Wechselspiel der Einflüsse zwischen Ost und West: der späten Holzschnittmeister Hokusai und Hiroshige Brückenlandschaften werden Whistlers Brückenmotiven in Kreidezeichnung, Litho und Kaltnadelradierung gegenübergestellt.

Gourmets werden vor der Farbpoesie der „Alten Chelsea Brücke“ von Camille Pissarro (New Yorker Privatbesitz) verweilen, um sich dann Monets durchhellter „Japanischer Brücke“ über' den Seerosenteich in Giverny zuzuwenden und der Altersparaphrase dieser Japanbrücke (Neue Pinakothek) nachzusinnen, der Verdunkelung der Palette, der Poesie verschwebender Formen, Tachismen vorwegnehmend.

Die Kompositionsprinzipien der Meister des Japanholzschnittes und ihre Aneignung durch Europas Künstler wird in strenger Systematik analysiert und in großartigen Bildbeispielen dargelegt. Die Eroberung des Landschaftsraumes, die Diagonalkomposition vielfältig anvisiert; die Diagonale als extremer Sichtverlauf (Ost: Hiroshige — West: Riviere, Sisley); Vergitterung im Landschaftsraum zeigt Hokusais Bambuswaldgitter vor dem Fuji und die Impulsaufnahme durch die Na-bis, ein kühler Denis, ein durchsonnter Vuillard, Landschaften, die von Baumvertikalen getragen sind. Das „angeschnittene Objekt“ und „asymmetrischer Aufbau“ als Kompositionsprinzip demonstrieren seltene Zinkographien „Bretoninnen“ von Emile Bernard und Paul Gauguin, aber auch Manet, Seurat, Toulouse-Lautrec, Bonnard in konträren Medien.

Für Wien tangierend ist die Zuordnung der Klimtschen Bildwerke. Judith II. (Salome), kam unter Bewachung aus Venedig, und der Werkvorlagen zum Stocletfries des Wiener Museums für Angewandte Kunst. Judith II. wird dem Naga-e-Pfostenbild, ein extremes Hochformat — das japanischeste aller Bildformate — zugeordnet. Ausschnitthafte Uberschneidung durch den Bildrand, Staffelung und Steigerung erreichen Abstrahierung und eine expressive Fulminanz in Farbe, Linie, Ornament. Die Werkvorlage zum Stocletfries wird in unorthodoxer Weise Japans „gold'nen Schirmen“ der prunkvollen Momoyama-Zeit verglichen. Bei Klimt autonom gewordene Ornamenteinheiten binden auch die menschliche Gestalt ganz der Bildfläche ein, „Erwartung“ und „Erfüllung“ umfängt der Lebensbaum als unendlicher Rapport, als „raumzeitliches Kontinuum“. Neben einer Wand fulminanten Rot-Vio-lett-Blau-Gelb-Farbfeuerwerks von späten Holzschnitten der Utagawa-schule, wo Linienduktus und Ornament japanischer Seiden, von No-und Kabuki-Kostümen zum Selbstzweck werden, kann die diaphane, lyrischere Abstraktion der Ornamentik Klimts bestehen. (Er orientierte sich nachweislich an japanischen Färberschablonen, besaß Kimonos und No-Kostüme und Farbholzschnitte der Utagawa-Schule.) Japans Stellschirmkunst ist durch einen Goldgrundschirm und einen hellgrundigen Faltschirm von Ioshi Bunshu, „Sechzehn Rakan“, eine feingestufte Tuschemalerei der Jünger Buddhas, durchaus grotesk, dynamisch anvisiert, vertreten. Nach der Farbflut der Utagawa-Schule bilden die Zellen der Tuschemalerei des Zen-Buddhismus Oasen der Stille für Denkansätze. Auf gleicher Höhe wie die Inspiration durch Ostasien im Museum der Weltkunst stehen Darbietung und Interpretation für die dramatische Begegnung der „Abendländer“ mit der Kunst der „Primitiven“. Seit Gauguins Entdeckung der ozeanischen altperuanischen, indianischen Formen — er markiert eine Schlüsselstellung im Schnittpunkt der Einflüsse — manifestiert sich ein umfassender Bruch im Bewußtsein der Europäer. Nicht nur Erweiterung des Formvokabulars, sondern Umkehr und Wende zu Archetypen, „prae-rationaler Ikonographie“, zu Magie und Verwandlungskraft der Kunst. Die Abkehr vom graeco-latinischen Proportionskanon in der Menschendarstellung, das Assimilieren „afrikanischer Proportion“ in der Skulptur, die heterogenen Anregungen von Pfahl und Block, bis hin zur vielfacettigen Maskenkunst, deren physiognomi-scher Phantasiereichtum weit die Europäer überragt und tiefgreifend bei Gonzales oder Picasso erneut in den vierziger Jahren in das Schaffen eingriff. Höhepunkte, dem Erinnern verhaftet bleibend: Gauguins Selbstbildnisse auf Keramiken altperuanischen Stils, pfahlartige Schnitzerei, die marquesanische Tikis als Ornament variieren, seine Idol-Plastiken und großartige Holzschnitte, Flachreliefs der Palau-Hausbalken, die den expressiven Stil Kirchners inspirieren und die eckigen Figuren der Brücke-Künstler beeinflussen, Schmidt-Rottluffs Erlenholzplastik „Grüner Kopf“, der sich an afrikanische Baule und Fangmasken orientiert. Oder die konzentrierte Konfrontation von Picasso-Gemälden mit Masken der Babangi und Sa-lampasu, oder Matisses „Jeanette V“, einem Kopf, aus Kamerun verglichen.

Betroffen verharrt der Betrachter vor der Präsenz der Ahnenfiguren afrikanischer Platsik aus der Sammlung Kerchache, Paris, deren Starre und Ausdrucksintensität Henri Laurens löst, den Pfahlstil aus Frontalität wieder in geschmeidige Bewegung umdeutend. Ein glänzender Einführungsessay von Manfred Schneckenburger ist den „Masken der Stammeskunst“, „Masken der Moderne“ gewidmet, wo das Wechselspiel der Einflüsse auf Modigliani, Brancusi, Duchamp, Villon, Belling und Moore analysiert wird — und in Einflußnahmen auf das Schaffen Gonzales' und Picassos kulminiert. Wenn für den Schauenden in der Begegnung mit der „primitiven“ Kunst sich das Auge sensibilisiert und geschärft hat, die Aura des Nu-minosen wahrzunehmen — die Abteilungen Magische Zeichen, Idol, Totem, Fetisch, sind reich belegt mit Kunst der Sepikregion, Tanzspeeren, Kampfschilden, Kultbrettern, mit ihrer zwingenden Bannkraft, oder der phantastischen Kunst der Ma-langgane in Pfahl-, Fries- und Maskenform, dem Totenkult geweiht, dann findet man von den Prototypen des Transhumanen rückkehrend zur Archaik Wotrubas oder Moores, auch als nachdenklich gestimmter Abendländer, doch Impulsaufnahme auf Ebene der Souveräne. Zeitenthoben wird die Kraft der Archaik übernommen („Hockender Gott“ der Azteken und die Götterfigur des Chacmools der Maya-Tol-teken in ihren „Liegenden“, Hachas der Tajin-Kultur Mexikos in Moores steinernem Profil-Kopf). Sie bedeuten eine zeitenthobene Antwort, die die Höhe des Anrufs hält, inkar-nieren einen Prozeß, den Andre Mal-raux Gestaltwandel des Göttlichen nennt.

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