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Die Welt der Literatur - und die Welt

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Der französische Historiker und Politologe mittlerer Generation, Jacques Rupnik, hat vor einigen Monaten in seinem historisch-politischen Essay über das Ende des Kommunismus und das Wiedererwachen der Nationalismen in Osteuropa eine Hypothese vorgestellt, daß „der Kommunismus einem Fegefeuer gleiche, aus dem die Menschen im östlichen Europa nun hervortreten und etwas mitbringen: die Erfahrung von vierzig Jahren Widerstand. Das sei die wahre Schule der Demokratie, die allein imstande ist, die nationalistischen Kräfte zu integrieren. In der Tat hat die Erfahrung des Kampfes um die Menschenrechte - der Solidarnosc in Polen, der Charta 77 in der Tschecho-Slowakei, des demokratischen Widerstandes in Ungarn - in diesen Ländern die Bindung an den Pluralismus verstärkt und es erlaubt, neue Bande zwischen Nationen zu knüpfen, die einander durch die Vergangenheit und das kommunistische Regime entfremdet worden waren".

Die Vertreter dieser Hypothese, der Fegefeuerhypothese, weisen darauf hin, daß sich „die heutigen Gesellschaften des östlichen Europas ganz erheblich von jenen aus der Zeit vor dem Kommunismus unterscheiden, und betonen mit Recht, daß die Demokratie der friedlichen Revolutionen von 1989, wie 1848 oder 1918, die legitimen nationalen Bestrebungen in sich aufzunehmen vermag".

Wie geht es also weiter mit den Menschen in den neuen Demokratien? Die erste Antwort lautet: Es wird schlecht weitergehen, mit schlimmen Geburtswehen, die weiter anhalten werden. Geburtswehen sind aber nun einmal bei jeder Geburt unvermeidlich; man kann sie allenfalls ein wenig abmildern. Was uns optimistisch stimmt, ist, daß sich diese Geburt nicht wieder rückgängig machen läßt. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt hätte man diesen Prozeß vielleicht verhindern können. Aber das ist jetzt gelaufen; daran ist nichts mehr zu ändern, wenngleich alle beteiligten Länder, auch die Deutschen, mit großen Problemen konfrontiert sind. Das zeigt sich in Polen genauso wie in Ungarn und der Tschecho-Slowakei, aber auch in Bulgarien und Rumänien und nicht zuletzt in mehreren Teilen der bisherigen Sowjetunion.

Das allerwichtigste Problem bildet in allen nunmehr befreiten Ländern der menschliche Faktor. In vielen Fällen versagt dieser Faktor. Es versagt die Toleranz, es versagt die Solidarität der Menschen. Die Leute sind nicht daran gewöhnt, ohne politisches Protektorat zu leben. Sie erwarten alles vom Staat und sind nicht bereit Opfer zu tragen. Auch in meinem Land, Polen, sind diese Erscheinungen bemerkbar, ebenso in der Tschechoslowakei und in Ungarn. Die Menschen sind müde und oft pessimistisch. Sie ziehen sich ins Privatleben zurück. Die stützende Rolle des Staates ist ausgefallen. Das Fehlen von Stipendien und Zuschüssen bringt Nachteile für Kultur, Literatur und Film. Das mag als Nebenproblem erscheinen, aber dadurch ändert sich doch die Perspektive des Alltags. Die Wirkung der Kirchen ist nicht überall identisch. Das sozialdemokratische Gedankengut geht zusammen mitdem kommunistischen verloren. Das bedeutet, daß zusammen mit Marxismus, Leninismus und Stalinismus auch gesunde soziale Ideen der reformlustigen Sozialdemokraten „hinausgeschmissen" wurden. Da liegt eine totale psychische Ablehnung vor - eben eine Protestbewegung am Anfang.

Wieweit sind die Leute bereit und in der Lage, die neue demokratische Ordnung, die sie ja selbst gewollt haben, konstruktiv mitzu-gestalten? Wenn jemand über viele Monate krank gewesen ist, erwartet niemand, daß er gleich wieder voll mitmachen kann. Wieso erwarten wir dies eigentl ich von den Völkern, die über 45 Jahre - im Falle der DDR noch länger -nicht normal gelebt haben? Normal heißt in diesem Falle: demokratisch, offen, politisch ausgebildet und, so weiter. Woher sollen denn die Menschen in der Stunde Null plötzlich die Fähigkeit herhaben, es dem Westen in dieser Hinsicht gleichzutun? Das ist völlig unmöglich. Glauben wir, daß diese Menschen Helden sind? Ich sehe auch hier auf den Straßen oder in Frankreich nicht Millionen von Helden herumlaufen, auch in England und in Deutschland nicht. Warum sollten wir dies in Budapest, Prag, Warschau, Sofia oder gar in Moskau oder St. Petersburg annehmen?

Dennoch kommt dem menschlichen Faktor entscheidende Bedeutung beim Aufbau demokratischer Gemeinwesen zu. Die Freiheit mag man in einer Nacht erlangen, wenn die Mauern der Unfreiheit fallen. Aber um was für eine Freiheit handelt es sich dann: Die

Freiheit zur freien Meinungsäußerung? Die Freiheit, Leute zu verleumden und zu attackieren? Die Freiheit zu neofaschistischen, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Auswüchsen? Oder die Freiheit, kluge politische Entscheidungen zu treffen? Letzteres erreichen wir sicher nicht von heute auf morgen. Das erfordert eine Selbsterziehung, die Umerziehung der Menschen und was das bedeuten darf, kann und soll bleibt eine offene Frage für uns alle, die mit der Feder arbeiten.

Ich sehe zwar keine Gefahr eines Rückfalls in den Kommunismus -gleichgültig welcher Prägung: Maos, Trotzkis, Stalins oder welcher auch immer. Aber es besteht die Gefahr einer neuen Frontenbildung zwischen nationaler, chauvinistischer Engstirnigkeit einerseits und Toleranz, Liberalismus, Christentum andererseits. Es gibt sicher jene hehren, schönen Motivationen, die wir alle anerkennen, ob wir nun gläubig sind oder nicht. Aber diese positiven Motivationen sind nicht unbedingt verwurzelt im Denken jener Millionen von Menschen in den Ländern, die sich jetzt befreit haben.

In allen diesen Ländern besteht eine ähnliche Gefahr: wenn sich die Wirtschaftslage weiter verschlechtert, wächst die autoritäre Bedrohung. Es ist auch nicht zu übersehen, daß viele Menschen müde geworden sind.

Sie wissen nicht, ob sie beim Aufbau der neuen Ordnung mitmachen oder lieber gleichgültig abwarten sollen. So manch einer denkt: Es ist besser, für eine schlechte Arbeit schlecht zu verdienen, als sich enorm anzustrengen, um gut zu verdienen, zumal man die Folgen ohnehin nicht abschätzen kann. Solche Stimmen höre ich aus der Tschecho-Slowakei, aus Ungarn, aus Polen. Das sind weniger die Intellektuellen als vielmehr die kleinen Leute, auch auf dem Lande. Wozu Eigentum erwerben, Steuern zahlen, Probleme bekommen? Besser miesen Lohn für miese Arbeit. Diese Einstellung, die eine Folge der ganzen unglücklichen Entwicklung in diesen Ländern ist, werden wir nicht in wenigen Monaten ändern.

Was ist die Ursache für die geringe Wahlbeteiligung in mehreren ehemaligen Ostblockländern? Nun, die Menschen sind unzufrieden. Sie sind aber nicht bereit und in der Lage, insoweit logisch zu denken, daß sie Einfluß auf Politik der eigenen Gemeinde oder der eigenen Stadt nehmen müssen, damit sich die Dinge zum Besseren wenden. Denn diesen pol itischen Zusammenhang, diese Ursachen- und Folgenkette begreifen viele Leute in ihrem Alltag nicht. Diese Erscheinung treffen wir in nahezu allen unseren Ländern an. Die Konsequenz ist, daß die neugewählten Parlamente und Regierungen nur ein sehr schmales Fundament und keine ausreichende Repräsentation haben.

Jetzt zum Populismus. Fremdenfeindliche Erscheinungen gibt es sicher nicht nur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Gott sei Dank werden in Polen keine deutschen Busse attackiert und keine Deutschen verprügelt. Aber Zigeunern passiert das schon. Gott sei Dank finden auch keine Judenpogrome statt, aber in Ungarn und auch in Polen werden gelegentlich böse Parolen über die Juden verlautbart. Es kommt zwar nicht sehr häufig vor, aber es ist schlimm genug, daß es überhaupt geschieht. Denn damit ist eine gewisse Signalwirkung verbunden.

Deshalb kommt der politischen Bildung eine so große Bedeutung zu, die in den Schulen wesentlich verstärkt werden müßte. Denn sonst besteht die Gefahr, daß der bisherige Klassenkampf wieder durch eine Art nationalen Rassenkampf abgelöst wird, oder was man sich sonst an himrissigen Kämpfen gegen Menschen ausdenken mag. Solche Tendenzen müssen an der Wurzel bekämpft werden.

Noch kurz ein paar Worte zur Lage auf dem Balkan. Wir leben nur wenige Stunden Autofahrt von der slowenischen Grenze entfernt. Dadurch ist das Geschehen in Jugoslawien für uns hier, in Wien, viel präsenter als vielleicht jemandem, der weiter weg lebt. Warum wollen diese Länder souverän werden? Könnte es nicht sogar sein, daß diese Entwicklung zur Souveränität - so paradox es klingen mag - den Weg zu einem vereinten Europa erleichtert? Wenn die Kroaten, die eine sehr lange Geschichte haben -fast so lang wie Rom - nicht unter serbischer Vorherrschaft leben wollen, was ihnen erst 1918 aufgezwungen wurde, warum sollen wir dann für diese Leute entscheiden, was für sie besser ist? Wäre da nicht eher eine freie Konföderation zu befürworten, die diese Länder aus freien Stücken bejahen?

Eduard Schewardnadze hat vor einigen Monaten in Wien gesagt, es sei besser neun frei vereinte Republiken der Sowjetunion zu haben als 15 nicht frei vereinte. Das hat ein namhafter russischer Politiker gesagt! Es ist zweifellos besser, wenn diese Völker Wege zur Zusammenarbeit finden, als sich gegenseitig umzubringen. Natürlich sollte man blutige Auseinandersetzungen auf jeden Fall zu verhindern suchen. Aber die gewaltfreien Methoden haben wir alle gepriesen: in Berlin, in Warschau, in Budapest, in Prag. Genauso anerkenne ich die gewaltfreien Methoden: Demonstrationen, Briefe, Erklärungen, Aufrufe in Ljubjana oder Zagreb und verurteile die Gewaltanwendung der Generäle.

Nehmen Sie das Beispiel der drei kleinen Republiken Litauen, Lettland und Estland, die bis 1940 recht gut zusammengearbeitet haben und auch lebensfähig waren. Niemand in Europa hatte irgendwelche Probleme mit diesen kleinen Ländern, die gut miteinander auskamen, weil sie nicht gezwungen waren, in einem Staatsverband unter Druck zusammenzuleben. Warum sollen in Zukunft nicht die Slowenen und die Kroaten ebenso mit den Serben oder anderen zusammenleben wie die Litauer, Letten und Esten damals?

Niemand denkt daran, die Luxemburger zu Belgien oder Holland einzuverleiben. Warum entscheiden wir so leichtfertig über andere, die wir nicht so gut kennen? Weil sie klein sind, oder weil sie weiter entfernt sind? Vielleicht ist es günstiger, wenn die Länder ein wenig kleiner sind... In Polen werden bis zum Ende dieses Jahrzehnts 40 Millionen Menschen leben. Das heißt nicht, daß wir damit glücklicher sein werden. Indien oder China hat noch viel mehr Menschen; ich beneide sie nicht.

Der Weg in die Demokratie, der jetzt vor den Menschen liegt, ist schmerzensreich. Deshalb muß man den Menschen Hilfestellung leisten, nicht nach einem Modell, sondern unter Berücksichtigung ihrer Erwartungen und Forderungen, wenn sie berechtigt und demokratisch sind. Ich sehe keinen anderen Weg.

Gestatten Sie mir bitte zum Ende etwas ganz Persönliches. Ich arbeite mit der Feder - als Journalist, Schriftsteller, Historiker fast 50 Jahre. Es waren keine leichten Jahre für Europa. Auch für Amerika und Asien keine problemlose Zeit. Acht Jahre zusammen war ich hinter Gittern, eine übliche Erfahrung in Mittel- und Osteuropa unter Hitler und Stalin. Die Diktatoren haben mich nicht gemocht. Man kann sagen: mit voller Gegenseitigkeit. ..

Was für eine nützliche Erfahrung kann aber die ältere Generation der Schriftsteller der jüngeren Generation vermitteln? Erstens - im Endeffekt gibt es in der Welt keine bessere Lösung als die friedliche Lösung. Bei jeder anderen Lösung leidet der Mensch. Und alles bleibt auch ungelöst... Zweitens: Der Mensch, der leidende, irrende, kämpfende, strebende Mensch ist der wichtigste Faktor auf dieser Erde. Nicht der triumphierende, starke Mensch, vielmehr der suchende, schwache oder auch unterdrückte Mensch ist unser Hauptthema und unser Auftrag. Der Mensch - die zerbrechliche Schöpfung Gottes. Unser Bruder. Ihm gilt die Macht unseres Wortes.

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