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Die Welt, in der wir leben

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Zu Anfang 1934, als ich in Budapest einen Vortrag hielt, warnten mich ungarische Freunde vor einem bevorstehenden Putsch in Wien. Eiligst kehrte ich zurück. Meine Mutter und mein jüngster Bruder lebten in unserem kleinen Haus in Wien zwar fern vom Stadtzentrum, vom Parlament und den Regierungsgebäuden, wo Demonstrationen zu erwarten waren, doch immerhin nahe genug den Arbeitersiedlungen, die an der Stadtpheripherie jüngst, nach dem Vorschlag von Adolf Loos, erbaut worden waren. Die Bauten waren als vorbildlich auch im Ausland anerkannt. Leider hat der damalige Kanzler Österreichs, Dollfuß, die Gefahr, die von gewissen Anhängern der alldeutschen Partei drohte, unterschätzt. Diese Partei, nach dem Verlust ihrer Besitzungen — Güter, aber meist Fabriken in den vormaligen Kronländern — verarmt, wollte durch den Anschluß an das Reich ihre verlorene Machtposition wiedergewinnen. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen dieser Gruppe der Bürgerschaft und der Arbeiterpartei führten nach deutschem Muster zur Bildung einer Privatarmee unter der Führung des Fürsten Starhemberg. Die Arbeiter wiederum verschanzten sich, bewaffnet, hinter dem Ring der Arbeiter-

Siedlung und wollten sich nicht ergeben. Die Bürgerlichen sahen in diesen Siedlungen kommunistische Festungen. Blutige Demonstrationen begannen, Dollfuß ließ Kanonen auffahren — das hatte man in Wien noch nicht erlebt.

Von unserem Haus aus konnte man Wien überblicken, Häuser brennen sehen, Kanonendonner hören. Meine weltfremde Mutter war Tag und Nacht nicht vom offenen Fenster wegzubringen, fassungslos darüber, daß in unserer Stadt Menschen aufeinander schössen. Sie verweigerte die Nahrungsaufnahme, wurde krank und kränker. Abermals hatte ich meinen jüngeren Bruder davon abzuhalten, die letzten Stunden eines Sterbenden zu erfahren; er sollte als junger Mensch den Glauben an das Leben behalten. Meiner in Prag lebenden kranken Schwester teilte ich erst nach der Beerdigung meiner Mutter die traurige Nachricht von ihrem Ableben mit.

*

Die Via Dolorosa hatte für Millionen unschuldiger Menschen begonnen. Noch heute bleibt mir die plötzlich eintretende geistige Lähmung der Gesellschaft, wie sie sich erst im Reich, dann in Österreich und nachher in ganz Europa ausbreitete, unbegreiflich. Ich könnte verstehen, daß man in Österreich plötzlich weiße Strümpfe oder eine Hahnenfeder auf dem Hut oder ein Hakenkreuz auf dem Arm trug, aber unbegreiflich bleibt, daß man der Werbung, Propaganda einer Ideologie, übermittelt durch die Massenmedien, verfiel, durch welche die freie Meinungsbildung unterbunden wurde. Zweckdienlich ist allen neuen Systemen die Technostruktur der modernen Zivilisation, die heute, ähnlich wie in einem Polizeiregister das Menschenmaterial am Arbeitsmarkt erfaßt und durch Identitätsnachweis, Parteikarten, Zuweisungen von Rationen und Siedlungsraum, Messungen mit der Stechuhr zu kontrollieren fähig ist.

Der Umstand, daß nicht bloß ein faschistisches, sondern jedes moderne politische System eine ähnliche, uniformierende Reaktion auf die menschliche Psyche auszuüben imstande ist, führt zur Einschränkung der individuellen Freiheit, die seit der Antike in einem viele Jahrhunderte langen geistigen Kampf uns als endgültig gesichert erschien. Das bekräftigt meinen Verdacht, daß diese Technostruktur die Ursache dafür ist, daß der moderne Mensch der Zukunft so fatalistisch entgegensieht wie das Kaninchen der Kobra, die es hypnotisiert. Man muß da näher sehen! Die Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik, deren Experimente einerseits die neuen Systeme fördern, hat anderseits zu den alptraiuimihaften Katastrophen geführt, die man Weltkriege zu nennen sich gewöhnt hat. Deshalb genügt es auch nicht, diesen oder jenen Führer, Hitler oder Stalin, und dieses oder ein anderes Volk als Bock in die Wüste zu schicken, dem wir unsere Sünden aufhalsen. Das genügt leider zu lange bereits der demokratischen Rhetorik als Entschuldigung, doch nicht den Millionen, die ihr Leben, ihre Heimat, ihren Besitz verloren haben. Mir genügt es nicht, Dollfuß anzuklagen, weil ich meine Mutter verloren habe! Ich vermute, daß die Technostruktur des Fortschritts, der

Aufklärung, die Katastrophe der Neuzeit verschuldet bat, weil uns die Maschine entglitten ist.

Wir sehen heute in der Maschine eine Art von Doppelgänger, der uns nicht länger erlaubt, daß Maß aller Dinge, Mensch, zu sein. Wir sind in ein Hörigkeitsverhältnis zur Maschine und deren Produktion gelangt. Denke man allein an die Kriegsproduktion, von der manche Staatssysteme ihr Budget bestreiten. Ein Tun, das ein vernunftgemäßes gesellschaftliches Dasein verleugnet, Wissenschaft und Technik haben uns, ähnlich wie die altägyptische Priesterreligion, an eine Zukunft, eine Folge von Fünf Jahresplänen bis ins Jenseits zu glauben gelehrt, was das Dasein selbst zur Utopie macht. Die altägyptische Priesterreligion lehrte, den Abgeschiedenen Stellvertreter mit ins Grab zu legen, sogenannte Uschebti, irrtümlich auch Schawabti genannt, die dem Toten im Jenseits alle Arbeit abzunehmen hatten, Sümpfe zu trocknen, den Boden zu bewässern, Steine zu schleppen, jedoch auch Prügel und Strafe für jedes Mißgeschick und Versäumnis einzustecken. Nun sind wir selber so eine Art von Stellvertretern der Maschine geworden, zu Nummern der Statistik, Figuren wie die glasierten Tonpüppchen, die Uschebti, auf denen der Name des Toten aufgemalt war, außer welchem auch uns im Dasein nichts übriggeblieben ist.

Alle unsere individuellen Äußerungsmöglichkeiten werden von der Technostruktur unserer Zivilisation geplant. Nichts Unvollendetes, nichts Unbegreifliches oder Unbegrenztes scheint uns länger anzuhängen. Die Gehirnanatomie lehrt bereits das menschliche Bewußtsein als eine kontrollierbare Funktion zu begreifen. Nur die Maschine wird immer komplizierter, unbegreiflicher und unbegrenzter in ihren Möglichkeiten. Der Computer nimmt uns das Denken ab. Es grenzt an Magie! Aus diesem Grunde sehen wir bereits heute wie Abgeschiedene der Verödung der Welt, der Verschmutzung der Flüsse, der Seen, Meere, der Atmosphäre teilnahmslos zu, so auch der krankhaften Vermehrung der menschlichen Spezies und der Überproduktion der Maschine. Die Weltkrise wird zum Dauerzustand, und gelassen sehen der Osten wie der Westen dem Gerichtsspruch des unibekannten Gottes zu, als wären wir schon im Jenseits und nicht länger im Diesseits, für das wir verantwortlich sind. Warum haben die Psychoanalytiker, die in den Verneinigten Staaten auf Hunderttausende angewachsen sind, seitdem Sigmund Freud den Versuch einer Deutung des gesellschaftlichen Tagtraums gemacht hat, sich fast ausschließlich mit dem sexuellen Problem beschäftigt? Warum nicht mit dem Allgemeinen der menschlichen Psyche? Warum haben die Naturwissenschaftler, Techniker und Physiker ihre Augen nicht offengehalten? Warum sandte ein Humanist von der Autorität eines Albert Einstein seinen berühmten Brief vom 2. 3. 1939 an den Präsidenten Roose-velt, in welchem er anregte, rechtzeitig die Experimente zur Erzeugung der Atombombe zu verfolgen, die im Reich von weiter blickenden Wissenschaftlern aufgegeben und dem Führer als zu zeitraubend erklärt worden waren, um zu verhindern, daß Hitler ein solches Spielzeug in die Hände bekam. Der Nachfolger Präsident Roosevelts, Mister Truman, hat im Krieg, der wieder allen Kriegen ein Ende bereiten sollte, das Experiment verfolgt und in Hiroshima erprobt. Es war unvermeidlich !...

„Ich gehe nach Rußland“, rief mein Freund Albert Ehrenstein, als Jude ein Optimist. Er hatte in der Zeitung gelesen, daß man dort den Juden einen eigenen Status gegeben hatte. Als ich mit meinem Freund vor dem Tor der russischen Gesandtschaft in

Wien ankam und dort den Stacheldraht sah und den russischen Wachtposten mit aufgepflanztem Bajonett, dachte ich, in den Zeitungen liest man vieles. Die nötigen Ausweise, Ausreisepapiere und Sonderpässe hatte Ehrenstein auch für mich besorgt. Aber als ich dann noch mehr Uniformierte im Eingang sah, drückte ich meinem Freund die Hand und wünschte ihm glückliche Reise. Zu seinem Glück kam er nach einigen Monaten gesund, aber tief enttäuscht zurück.

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