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Die Welt ist nicht heil, aber heilbar

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Der Lesehunger der Jugend ist bekannt. Instinktiv weiß sie um die Kraftquellen, die ihr da zur Verfügung stehen. Wie anders ließe sich erklären, was sich einmal — vor Jahrzehnten — im Lager Theresienstadt ereignet hat? Ein Transport mit an die tausend jungen Menschen mußte zusammengestellt werden, und am nächsten Morgen ging es ins Lager Auschwitz. Am selben Morgen aber mußte festgestellt werden, daß in der Nacht in die Lagerbücherei eingebrochen worden war. Jeder einzelne von den Todgeweihten hatte sich Werke seiner Lieblingsdichter, aber auch wissenschaftliche Bücher in den Rucksack gestopft. Als Reiseproviant auf der Fahrt ins (zum Glück noch) Unbekannte. Ich verfüge über Material, aus dem eindeutig hervorgeht, daß dergleichen auch nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist, in Kriegsgefangenenlagern ebenso wie in Konzentrationslagern, und Konzentrationslager gibt es ja heute noch genug.

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Der Lesehunger der Jugend ist bekannt. Instinktiv weiß sie um die Kraftquellen, die ihr da zur Verfügung stehen. Wie anders ließe sich erklären, was sich einmal — vor Jahrzehnten — im Lager Theresienstadt ereignet hat? Ein Transport mit an die tausend jungen Menschen mußte zusammengestellt werden, und am nächsten Morgen ging es ins Lager Auschwitz. Am selben Morgen aber mußte festgestellt werden, daß in der Nacht in die Lagerbücherei eingebrochen worden war. Jeder einzelne von den Todgeweihten hatte sich Werke seiner Lieblingsdichter, aber auch wissenschaftliche Bücher in den Rucksack gestopft. Als Reiseproviant auf der Fahrt ins (zum Glück noch) Unbekannte. Ich verfüge über Material, aus dem eindeutig hervorgeht, daß dergleichen auch nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist, in Kriegsgefangenenlagern ebenso wie in Konzentrationslagern, und Konzentrationslager gibt es ja heute noch genug.

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Wir sind nicht blind. Das Buch braucht sich keineswegs immer weiß Gott wie segensreich auszuwirken. Nicht zuletzt sind wir skeptisch geworden, was die Popularisierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse anbelangt. Einstein hat einmal gemeint, dem Wissenschaftler bleibe nur die Wahl, entweder verständlich und oberflächlich zu schreiben, oder aber gründlich und unverständlich. Bei alledem ist ein Unverständnis auf seiten des Lesers noch immer harmloser als ein Mißverständnis. Aber auch ein Mißverständnis kann harmlos sein. Dies war etwa der Fall, als der New Yorker Psychiater Binger einen öffentlich zugänglichen Vortrag über Psychosomatische Medizin gehalten hatte und dann gefragt wurde, in welchem Geschäft denn ein Fläsch-chen psychosomatischer Medizin erhältlich sei.

Die Gefahr des Mißverstehens sehe ich ganz anderswo. Nur allzu leicht führt eine weniger popularisierte als vielmehr vulgarisierte Wissenschaft dazu, daß der Mensch sich selbst mißversteht — daß sein Selbstverständnis verbildet wird, indem ihm Halbwahrheiten, Viertelwahrheiten, Achtelwahrheiten angeboten werden, als würde es sich um die ganze Wahrheit handeln. Und woher dies kommt?

Für gewöhnlich hören wir die Leute darüber klagen, daß sich die Wissenschaftler zu sehr spezialisieren. Ich glaube, das Gegenteil ist wahr. Der Jammer ist nicht, daß sich die Wissenschaftler spezialisieren. Sondern der Jammer ist, daß die Speziellsten generalisieren. Wir kennen die sogenannten terribles simpliflcateurs. Sie vereinfachen alles. Aber es gibt auch die terribles generalisateurs, wie ich sie nennen möchte. Die terribles simpliflcateurs schlagen alles

über einen Leisten. Die terribles generalisateurs bleiben nicht einmal bei ihrem Leisten. Sie verallgemeinern alles. Wie anders sollen sie auch einen Bestseller zustande bringen —

wie sollen sie popularisieren ohne zu generalisieren?

Unter dem Einfluß der Massenin-doktrination, die schon von den bloßen Titeln solcher Bestseller ausgeht, versteht der Leser sich selbst nicht mehr als Menschen, sondern — und ich zitiere zwei Bestsellertitel —■ als einen „nackten Affen“ und einen Apparat und Mechanismus „jenseits von Freiheit und Würde“. Dazu kommt der Nihilismus von heute. Der Nihilismus von gestern erging sich im

Gerede vom Nichts. Der Nihilismus von heute verrät sich durch die Worte „nichts als ...“ Der Mensch ist „nichts als“ das Produkt von Produktionsverhältnissen, von Erbe und Umwelt von sozialökonomischen und psychodynamischen Bedingungen und Umständen und weiß der Teufel was. So oder so: er wird hingestellt als ein Opfer der Verhältnisse, während er in Wirklichkeit der Schöpfer der Verhältnisse ist, zumindest ihr Gestalter und, wann immer es nötig sein sollte, auch ihr Umgestalten

Namentlich eine vulgarisierte Tiefenpsychologie spielt dem neurotischen Leser willkommene Alibis in Hülle und Fülle in die Hände. Schuld an allem sind dann nur noch die Komplexe. Er ist dann für nichts mehr verantwortlich. Es gibt ja keinen freien Willen mehr. Aber wie weise antwortete mir einmal eine schizophrene Patientin auf meine

Frage, ob sie sich etwa nicht wie willensfrei vorkomme, mit der Bemerkung: „Wissen S', Herr Doktor, i bin willensfrei, wann i will, und wann i net will, bin i net willensfrei.“ Und was im besonderen die Komplexe anbelangt, schrieb mir einmal eine Nichtpartientin: „Ich habe eine fürchterliche Kindheit hinter mir, bin in einem sogenannten broken hörne aufgewachsen und habe bittere Not gelitten. Und doch möchte ich all das Schreckliche, das ich in meiner Kindheit erlebt und erfahren habe, nicht missen. Denn ich bin überzeugt, daß viel Positives aus ihm hervorgegangen ist. Komplexe? Der einzige Komplex, an dem ich leide, ist der Gedanke, daß ich eigentlich Komplexe haben müßte, ohne wirklich welche zu haben.“

Das Gerede vom „nichts als“, oder, wie diese Einstellung zum Menschen ebenfalls genannt wird, der Reduktionismus, ist nur der eine Aspekt des zeitgenössischen Nihilismus. Der andere Aspekt ist der Zynismus.

Es ist schick geworden, sich über die heile Welt lustig zu machen, den Menschen herunterzumachen, ihn zu verteufeln. Selbstverständlich gehört es nicht zu den Aufgaben der Literatur, die Wirklichkeit zu beschönigen, sie zu verharmlosen. Sehr wohl mag es aber zu ihren Aufgaben gehören, jenseits der Wirklichkeit eine Möglichkeit aufleuchten zu lassen, die Möglichkeit einer Veränderung der Wirklichkeit, die Möglichkeit einer Umgestaltung der Wirklichkeit. Die Welt liegt im argen — wem sagen Sie das? Sie ist nicht heil. Aber Sie werden verstehen müssen, daß es mir als Arzt widerstrebt, es dabei bewenden zu lassen. Die Welt ist nicht heil, aber heilbar. Und eine Literatur, die es verschmäht, in diesem Sinne ein Heilmittel zu sein und am Kampf gegen die Krankheit des Zeitgeistes teilzunehmen — eine solche Literatur ist nicht eine Therapie, sondern ein Symptom, das Symptom einer Massenneurose, der sie noch dazu in

die Hände arbeitet.

Denn die Massenneurose von heute ist charakterisiert durch ein weltweit um sich greifendes Sinnlosigkeitsgefühl. Heute ist der Mensch nicht mehr so sehr wie zur Zeit von Sigmund Freud sexuell, sondern existentiell frustriert. Und heute leidet er weniger als zur Zeit von Alfred Adler an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern eben an einem Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühl einhergeht, mit einem existentiellen Vakuum. Heute ist es bereits im Osten, ja in der Dritten Welt zu beobachten. So hat der tschechische Neurologe Professor Vymetal nachweisen können, daß „diese Krankheit von heute, der Verlust des Lebenssinns, besonders bei der Jugend, ohne Einreisegenehmigung die Grenzen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung überschreitet“. Wenn Sie mich fragen, wie ich mir die Heraufkunft des

Sinnlosigkeitsgefühls erkläre, dann kann ich nur sagen, im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Instinkt, was er muß, und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten sagt ihm keine Tradition mehr, was er soll — und nun scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er eigentlich will. So kommt es denn, daß er entweder nur will, was die anderen tun — und da haben wir den Konformismus —, oder aber er tut nur, was die anderen wollen, von ihm wollen — und da haben wir den To-talitarismuis.

Mit Hilfe von Tests ist statistisch nachgewiesen worden, daß das Sinnlosigkeitsgefühl am meisten unter den jungen Menschen verbreitet ist. Und Ingenieur Habinger hat auf Grund einer statistischen Stichprobe ermitteln können, daß es unter 500 Wiener Lehrlingen innerhalb der letzten Jahre von 30 Prozent bis auf 80 Prozent gestiegen ist. Was Amerika anbelangt, haben meine Mitarbeiter an der United States International University den Nachweis erbringen können, daß so weltweite und im Zunehmen begriffene Phänomene, wie Aggressivität beziehungsweise Kriminalität, Drogenabhängigkeit und Selbstmord, im Grund auf eines zurückzuführen sind, und das ist eben das Sinnlosigkeitsgefühl. Unter den amerikanischen Studenten rangieren als Todesursache die Verkehrsunfälle an erster Stelle, dann folgen bereits die Selbstmorde. Dabei sind die Selbstmordversuche 15mal häufiger und die Dunkelziffer ist noch nicht berücksichtigt. Zum Glück. Denn wir Ärzte haben nicht nur therapeutisch, sondern auch prophylaktisch zu denken, und auf dem Gebiete der Selbstmordverhütung ist Publicity nicht so ohne weiteres Von Vorteil. Vielleicht genügt es, wenn ich Ihnen in diesem Zusammenhang verrate, daß in Detroit einmal die Häufigkeit von Selbstmorden beziehungsweise

Selbstmordversuchen jäh abnahm, um erst nach sechs Wochen ebenso

jäh wieder zuzunehmen. Während dieser sechs Wochen hatte es nämlich einen kompletten Zeitungsstreik gegeben, und den Selbstmorden und Selbstmordversuchen war Publicity komplett versagt geblieben.

Es muß eben nicht alles gesagt werden. Wenn ich einem Patienten den Blutdruck messe, und der ist, sagen wir, 160, und ich sag's dem Patienten, dann ist er ja nicht mehr 160, sondern inzwischen ist er auf 180 gestiegen. Denn der Patient fürchtet sich vor einem Schlaganfall. Sag' ich ihm hingegen, auf seine bange Frage, eigentlich sei der Blutdruck normal, er habe also nichts zu befürchten, dann ist der Patient beruhigt, und der Blutdruck ist auch wirklich nur noch 140.

Und worin mag die Aufgabe und Verantwortun des Buchhandels bestehen? Darin, daß er dem Menschen seinen Willen zum Sinn, der heute so frustriert ist, zunächst einmal überhaupt erst zumutet. Solange wir uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, der Leser sei für dieses oder jenes Buch einfach zu blöd, bleibt er nicht nur auch wirklich blöd, sondern wird er überhaupt erst blöd. Es gibt Idioten, die überhaupt nur Idioten geworden sind, weil ein Psychiater sie einmal dafür gehalten hat. Es tut mir

leid, aber ich muß, wie ein Gymnasiast seine Redeübung, mit einem Goethe-Zitat schließen: „Wenn wir den Menschen so nehmen, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter. Wenn wir ihn aber so nehmen, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann.“

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