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Die Welt ist voll von Nichtelefanten

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Bei der Tagung in Castel Gandolfo (FURCHE Nr. 35) hielt der deutsche Physiker und Philosoph C. F. von Weizsäcker ein Referat, aus dem wir eine längere Passage zitieren.

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Bei der Tagung in Castel Gandolfo (FURCHE Nr. 35) hielt der deutsche Physiker und Philosoph C. F. von Weizsäcker ein Referat, aus dem wir eine längere Passage zitieren.

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Wir philosophieren heute. Wir philosophieren nicht in der Ewigkeit. In der Zeit reden wir über die Zeit. Mitten im technischen Zeitalter fragen wir nach Herkunft und Sinn der Begriffe, die dieses Zeitalter uns aufdrängt. Die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, von Reiz und Verhalten ist tierisches Erbe; ich habe sie soeben in ihrer differenzierten Struktur geschildert.

Beim Menschen wird man vier Momente unterscheiden: Wahrnehmung, Urteil, Affekt, Handlung. Ich wiederhole ein altes Beispiel. Der Autofahrer sieht die entgegenkommende rote Kontur, urteilt: „ein Wagen auf der falsehen Fahrbahn”, erschrickt, und handelt durch Vorbeilenken. Im alltäglichen Ablauf sind die Momente ungetrennt. Die Wahrnehmung ist prädikativ: ich sehe das Auto (ich sehe das Eidos!).

Das Urteil ist affektiv: „O Schreck, auf der falschen Fahrbahn”; schon „falsch” ist ein affektiver Begriff. Wahrnehmung, Urteil, Affekt leiten, wenn sie Erfolg haben, bruchlos in die Handlung über. Woher wissen wir eigentlich, daß unser Verhalten gerade diese vier Momente enthält? Einen Teil der Antwort gibt ein Blick auf die nächsthöhere Stufe, die Stufe des Nützlichen, oder wie man gelehrt sagt, der Zweckrationalität.

Die schwebende Natur des „Baugerüsts” zeigt sich darin, daß immer wieder erst die höhere Stufe die Struktur der nächstniedrigen wenigstens teilweise erklärt. Nun werden wir die unteren Stufen eher unseren Vorstellungen von der Natur des Menschen zuordnen, die höheren eher den geschichtlich gewordenen Ausprägungen der Kultur. Dahn bedeutet aber der „schwebende” Charakter des Baugerüsts, daß in Wahrheit unsere Vorstellung von der Natur des Menschen selbst Produkt unserer geschichtlich gewordenen Kultur ist. Eben auf diese Tatsache zielt meine Darstellung.

Eine Schranke des Denkschemas der Zweckrationalität ist, daß die Zwecke selbst nicht mehr verstanden, sondern, als „subjektiv”, vorausgesetzt werden. Man spricht dann etwa von „Werten”. Und wenn man sieht, daß alle sogenannten Werte unbegründet bleiben, daß unsere Wertbegriffe bodenlos sind, daß Urteil und Handlung, Verstand und Wille allein uns schließlich nur Wollen als Selbstzweck lehren, so spricht man von der ungelösten Sinnfrage.

Unsere Kultur kennt freilich große Werte, die über der Stufe der Nützlichkeit stehen. Drei Be- reičhe solcher Werte habe ich vorhin genannt. Ich sprach von Theorie, Moral und Kunst. Die tradi tionellen Namen der für sie leitenden Werte sind das Wahre, das Gute und das Schöne.

Statt Moral hätte ich für philosophisch Gebildete besser den aristotelischen Begriff der Praxis gebraucht. Die aristotelische Poiesis deckt hingegen außer der Kunst auch die Technik, die wir eher der Zweckrationalität, also dem Wert des Nützlichen zuordnen würden. Ich nannte Theorie, Moral und Kunst neuzeitlich-kulturelle Pointierungen. Neuzeitlich, also nicht selbstverständlich, nicht aus einer unterstellten Natur des Menschen herzuleiten. Vielmehr kulturell: Kunstprodukte. Pointierungen: Zusammenziehungen einer breiten Basis von Phänomenen auf eine jeweils schmale Spitze von Leistungen, drei Eiffeltürme.

Die Trias ist, so sagte ich, nicht aus der Natur des Menschen herzuleiten. Ich kenne keine mir einleuchtende systematische Begründung für sie. Vielmehr scheint sie mir zu bestehen aus einer Leitpointierung, nämlich der Theorie, und ihren kompensie renden Restpointierungen, zuerst der Praxis, dann der Kunst.

Theorie ist, so empfinde ich, das eigentümliche Kunstwerk der abendländischen Kultur, das sie von allen anderen Kulturen unterscheidet. Inder und Japaner haben mir gesagt: „Stärke und Grenze eurer Kultur ist^lie Herrschaft der aristotelischen Logik.”

Mein heutiger Vortrag handelt von der Theorie, macht sie zum Thema. Wir haben sie zuerst als die deduktive Mathematik der Griechen zu Gesicht bekommen, und als die schwesterlich zu ihr entstandene Metaphysik. In der Neuzeit hat sich die Naturwissenschaft voll entwickelt, der die Mathematik nicht nur Paradigma, sondern Instrument ist. Geistesund Sozialwissenschaft orientiert. Der Kernbegriff der Theorie ist das Wahre, dem das Falsche gegenübersteht: die zweiwertige Logik.

Praxis ist zunächst eine von Theoretikern erfundene Restkategorie zur Bezeichnung der Normalität.. Die Welt ist voll von Nichtelefanten, das menschliche

Leben ist voll von Nichttheorie; das nennt man Praxis. Die Theorie beginnt aber alsbald, die Strukturen der Praxis zu studieren und sie damit auf das binäre Schema des Wahren und Falschen umgestaltend abzubilden. Aristoteles grenzt, sehr klug, unter dem Namen Praxis dasjenige ein, das sein Telos, seinen Sinn und Zweck, in sich selbst trägt; der Rest heißt Poiesis.

Der Leitwert der Praxis heißt nun das Gute. In der christlichen Kultur verbindet sich dies mit dem Geschenk der Juden an die Menschheit, der leidenschaftlichen Unterscheidung des Guten und Bösen. Die Moral, die sich als Pointierung auf dieser Basis erhebt, ist von Anfang an vorwiegend politische Moral. Wirtschaftliche und politische Macht ist ein Humanum, eine erst dem Menschen mögliche prinzipiell unbegrenzte Akkumulation von Mitteln für Zwecke gesellschaftlicher Durchsetzung; sie ist, von der Natur her gesehen, ein weltverwandelnder kultureller Luxus.

Kunst ist eine spezielle Pointie rung in einem Bereich, der weder Theorie noch Moral ist. Gesang, Tanz und Flötenspiel, Schnitzwerk und Baukunst, Erzählung und Drama gibt es seit Menschengedenken. Daß all dies Kunst sei, ist eine kluge Entdeckung der Theorie. Was aber Kunst eigentlich ist, hat die Theorie, so scheint mir, nie wirklich zu sagen vermocht. Als Latte im Baugerüst biete ich die hausgemachte Formel an: Kunst ist die beseligende Wahrnehmung von Gestalt durch die Schaffung von Gestalt.

Kunst ist heute, sozial gesehen, die private und darum geduldete Zuflucht vor der Willens- und Verstandeswelt. Es käme aber darauf an, zu sehen, daß sie uns Wahrheit zeigt, die der Theorie und der Moral entgeht. Kunst, der Luxus von Gestalt, ist vielleicht ein Oberbegriff auch über Theorie und Moral.

Die Einheit der Wahrheit haben wir so nicht zu Gesicht bekommen. Sie zu denken, war der Anspruch der Metaphysik. In der sozialen Realität der Kulturen hat eine andere Macht die Einheit bewahrt: die Religion. Geht man ins einzelne, so kann man, in der heutigen Sprechweise, vielleicht vier gesellschaftliche Rollen der Religion unterscheiden. Religion als Träger einer Kultur, als Theologie, als radikale Ethik, als innere Erfahrung.

Religion als Träger einer Kultur ist ein Ausdruck der Retrospektive. Als die Religion unsere Kultur trug, wurde sie nicht funktional als Kulturträger verstanden, sondern direkt als Wahrheit, als die Allgegenwart des Göttlichen. Die drei weiteren Rollen aber s’ind Versuche, in einer Welt der erschütterten Tradition das Eigentliche der Religion herauszuheben.

Theologie ist die Bestimmung des Wahren und Falschen in der Religion, sie ist Theorie. Theologie ist zunächst der terminologische Name des Herzstücks der Metaphysik. Christliche Theologie, so möchte ich wagen zu sagen, ist der Kampf zwischen dem griechischen Geschenk an die Menschheit, der Aufklärung von Wahr und Falsch, und dem jüdischen Geschenk der Offenbarung von Gut und Bpse. Aufklärung und Offenbarung — zwei Lichtmetaphern.

Radikale Ethik ist, in meiner jetzigen Sprechweise, zunächst Moral. Bei Platon wie bei den jüdischen Propheten ist sie politische Moral. Hinter ihr steht aber noch eine ganz andere Erfahrung: die luxurierende, beseligende Selbstverleugnung der Asketen. Nichts Großes geschieht ohne einen seelischen Überfluß. Die un- widersprechliche Wahrheit der Bergpredigt manifestiert sich nicht zuerst in ihren Imperativen, sondern im Indikativ der Seligpreisungen.

Wir sind damit auf die innere Erfahrung verwiesen. Wir sind wieder in dem dritten, von Urteil und Handlung, von Theorie und Moral nicht ausgeschöpften Bereich. Innere Erfahrung der Religion ist Glaube, Kultur, Gebet, auch Verzückung; sie ist die Wandlung der Person.

Die Erinnerung an die Asketen führt uns historisch auf eine dritte Lichtmetapher, ein drittes Geschenk an die Menschheit: die indische Erleuchtung der Unge- schiedenheit der Gegensätze, der Erfahrung des Einen.

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