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Die Wende nach der Winterwahl

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„Direct mail“ und „Telefon canvassing“ (Brief- und Telefonwerbung) bestimmten den Richtungswahlkampf der Unionsparteien. Die Wende kam -anders als erwartet.

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„Direct mail“ und „Telefon canvassing“ (Brief- und Telefonwerbung) bestimmten den Richtungswahlkampf der Unionsparteien. Die Wende kam -anders als erwartet.

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Zweitausend Sympathisanten wollten am Sonntag im Konrad-Adenauer-Haus in Bonn, der CDU-Zentrale, einen .Sieg der Unionsparteien feiern. Als die ersten Hochrechnungen einen deutlichen Stimmenverlust — letztlich waren es 4,5 Prozent gegenüber 1983 — signalisierten, gefror die Stimmung. Die Koalition gerettet, so lautete die Sprachregelung an diesem Abend. Noch am Nachmittag des Wahltages hatte Elisabeth Noelle-Neumann vom Allensbacher demoskoprschen In-

stitut zumindest 46 Prozent für CDU/CSU (tatsächlich 44,3), 36 Prozent für die SPD (tatsächlich 37), neun Prozent für die Grünen (8,3) und 8,5 für die FDP (9,1) prognostiziert.

Irgend etwas mußte falsch gelaufen sein im Wahlkampf der Unionsparteien, dürfte nicht gegriffen haben. Vielleicht war der Winterwahlkampf mitschuld, vielleicht zogen die allzu optimistischen Zukunftsparolen nicht.

Die „Weiter so, Deutschland“-Aufforderung der CDU gab offenbar doch nicht so ganz dem Lebensgefühl der Bundesbürger Ausdruck.

Als der stellvertretende Pressesprecher der CDU, Hans-Christian Mäaß, gegenüber der FURCHE von einer differenzierten Sichtweise der Probleme (Arbeitslosigkeit, Agrarfragen) seitens der Wähler sprach, meinte er dies wohl apologetisch gegenüber Kritikern, die der Koalitionsregierung die mehr als zwei Millionen Arbeitslosen vorhalten.

Es war zu kurzschlüssig, in diesem Zusammenhang von einer Entemotionalisierung der Arbeitslosenproblematik zu sprechen: Nicht jeder spürte, „daß es aufwärtsgeht“, weil immerhin 600.000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Die Unionsparteien vertrauten zu sehr auf jene Grundüberzeugung älterer Bundesbürger, die davon ausgeht, „daß man in der Bundesrepublik Deutschland in einer Welt relativer Vorzüglichkeit“ lebe (Maaß).

Eben deswegen glaubte man bei den Unionsparteien auf einen Wahlkampf der deutlichen Abgrenzung zu den „roten und grünen Chaoten“ setzen zu müssen. Maaß: „Die Rot-Grünen gehen von einer Negativ-Szenerie aus, und das will die Mehrheit unserer Bevölkerung nachweislich nicht.“

Sicherlich ist eine etwas kurzsichtige Beurteilung der Haltung der bundesdeutschen Bevölkerung zu Umweltfragen (Maaß: „Tschernobyl ist nicht überall, sondern in der Sowjetunion“) mit ein Grund für das schlechte Abschneiden der Unionsparteien.

Für Österreich interessant ist ein starkes Beschwören der Lagermentalität durch die Unionsparteien. Die Mitte (CDU/CSU und FDP) sollte sich demnach überdeutlich von den rot-grünen Utopisten abheben, „die einen ganz anderen Staat wollen“ — so der CDU-Politologe Wolfgang Bergsdorf zur FURCHE.

Der „Richtungswahlkampf“ — in dem offenbar unterschiedliche Staatskonzeptionen eine Rolle spielten — hatte aber nicht den gewünschten Effekt. Die Wähler entdeckten auch im „Mangelwahlkampf“ (Maaß) eines Johannes Rau und der Grünen gewichti-

ge Argumente. Es war also voreir lig, Neutralitätsforderungen der Grünen und Entspannungswilligkeit auf neuem Niveau der Roten als „geistige Verwirrung“ abzu-tun.

Ein Blick auf die nach Einschätzung der Bürger der Bundesrepublik Deutschland wichtigsten Themen - Arbeitslosigkeit, Frieden, Umweltschutz, Rentenschutz, innere Sicherheit und Wirtschaftsstabilität - läßt vorrangige Aufgaben der künftigen alt-neuen Koalitionsregierung erkennen. Demoskopische Erhebungen in der Bundesrepublik zeigen, daß der CDU die größte Kompetenz in Wirtschaftsfragen und bei der Friedenssicherung zugesprochen wird. In Fragen des Umweltschutzes führen die Grünen als kompetenteste Partei, bei

der Rentensicherung dominiert wieder die CDU.

Ein sehwaches Kompetenzprofil zeigt die FDP. Die SPD gilt als Partei der Sozialpolitik, wobei dieser Bereich in der Bundesrepublik Deutschland als Problem nicht an vorderster Stelle steht.

Etwas andere Themenpräferenzen hat Jürgen Wahl vom „Rheinischen Merkur“. Er ortet jetzt einen Machtübergang an die junge Generation mit einem „starken Abbruch an verschiedenen Fronten“.

Besonders notwendig erachtet er die Versöhnung von Umwelt und Wirtschaft — wobei Extremtheorien „aufgeregter oder reaktionärer Kapläne“ nichts brächten. Außerdem plädiert er für eine „neue Politik in den Metropolen“, für einen neuen Politikertyp, der .jener Sehnsucht nach Leitbil-

dem bei jungen Leuten entgegenkommt, die unter der Oberfläche brodelt“.

Wahl nennt in diesem Zusammenhang einige Namen: Rita Süßmuth, Norbert Blüm und Johannes Rau. Es gehe um Ehrlichkeit und Empfindsamkeit der Politiker gegenüber jungen Leuten, was allerdings die „Änderung des Tagesablaufs“ zur Folge haben müßte.

Im übrigen — meint Jürgen Wahl - fallen nicht nur nach Westen, sondern auch nach Osten die Grenzen — „auch wenn man bei Wahlkämpfen offenbar bestimmte Grenzen immer wieder vorbringen muß“.

Als „dummes Gerede“ wertet Wahl die Qualifizierung der Grünen als „Linkspartei“. Er spricht von einem Sammelbecken vorwiegend junger Leute, „denen es stinkt“. In diesem Zusammenhang kommt auch ein Seitenhieb auf den „verfluchten Konformismus“ in der Bundesrepublik, der der Demokratie nichts bringe.

Bedenken hat hier Elisabeth Noelle-Neumann, die vor einer Wende warnt: Nur durch den enormen Wertabstand zwischen Eltern und Kindern sei es zur Ausbildung der Grünen gekommen.

Die Auffassung der Grünen, wonach Gewissen wichtiger als Recht sei, lasse — so Noelle-Neumann — unruhige Zeiten befürchten.

Der Wendewahlkampf in der Bundesrepublik hat in der Tat eine Wende gebracht; anders aber als von den Unionsparteien erwartet und gewünscht. Es zeichnet sich eine Hinwendung zu den Grünen ab und möglicherweise eine Wende der Sozialisten zur Mitte (im Sinne einer Konsolidierung dieser Partei).

Die Grünen selbst — so Lukas Beckmann — signalisierten eine Wende zu Grundwerten christlicher, sozialistischer und liberaler Herkunft.

Mit dem alt-neuen FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher wird es wohl keine Abkehr von einer außenpolitischen Entspannung geben.

Die Wende in der Bundesrepublik Deutschland ist noch nicht zu Ende.

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