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Digital In Arbeit

Die Wertvorstellungen ändern sich drastisch

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1967 hatten wir Gelegenheit, im Al- lensbacher Institut Erziehungsideale mit einer 15-Punkte-Liste zu erfrage um die Geltung von altmodischen und modern gewordenen Werten festzustellen. Fünf Jahre später, 1972, wurde die Frage unverändert wiederholt. Das Ausmaß der Veränderungen, die wir fanden, zeigte uns, daß wir einen Ausschnitt aus einem bestimmt schon länger anhaltenden Prozeß erfaßt hatten, denn Umstellungen solcher Größenordnungen verlangen Inkubationszeiten (vgl. Kasten).

Eine Reihe von Untersuchungen führte zur ersten These der Analyse: Im materiellen Bereich verbürgerlichen die Arbeiter, ein bürgerlicher Lebensstandard in bezug auf Besitz und Sicherheit ist praktisch erreicht; im geistigen Bereich der Einstellungen, Wertvorstellungen vollzieht sich umgekehrt eine Anpassung an Unterschichtsmentalität, den bürgerlichen Werten entgegengesetzte Haltungen: Arbeitsunlust; Ausweichen vor Anstrengung, auch der Anstrengung des Risikos; statt langfristiger Zielspannung unmittelbare Befriedigung; Egalitätsstreben; Zweifel an der Gerechtigkeit der Belohnungen; Statusfatalismus, das heißt, Zweifel an der Möglichkeit, durch Anstrengung den eigenen Status zu verbessern …

Die zweite These der Analyse lautete: Erleichterung der Arbeit, Verbesserung der materiellen Lebensumstände, soziale Sicherung reichen nicht aus, um das Bewußtsein der Arbeiter mit mehr Glück, mehr Befriedigung, mehr Autonomie zu erfüllen. Der allzu einfache Gedanke, über diese sozialen Errungenschaften lasse sich Lebensqualität erreichen, muß korrigiert werden.

Bei der jahrelangen Suche, welche Art von Lebensumständen Menschen glücklich oder weniger glücklich macht, kehre ich immer wieder zu einem ganz bestimmten Befund zurück, dem ganz unglaublichen Unterschied im Lebensgefühl, Lebensglück und Arbeitszufriedenheit zwischen Arbeitern und Selbständigen.

Selbst bei der jungen Generation ist dieser Unterschied in seiner Dra- matik zu finden. „Ich habe große Freude an meiner Arbeit”, sagen die unter 30jährigen Arbeiter zu 31 Prozent, die jungen Selbständigen zu 53 Prozent. Noch ausgeprägter dann bei der älteren Generation (50- bis 60jäh- rige): „Große Freude an meiner Arbeit”, erklären die älteren Arbeiter zu 44 Prozent, die älteren Selbständigen zu 83 Prozent.

Die Vorstellung, das sei einfach die Wirkung der höheren Einkommen, läßt sich widerlegen. Anderseits - merkwürdigerweise bei den öffentlichen Diskussionen über Gerechtigkeit der Einkommensverteilung nie in Beziehung gesetzt - wird Reichtum an Freizeit von den meisten heute und auch schon Anfang der fünfziger Jahre höher als Geldeinkommen bewertet. An Freizeit aber fehlt es den Selbständigen gerade; das hätte eigentlich ihre Lebenszufriedenheit hinabdrücken müssen und macht das hohe Niveau der Zufriedenheit um so eigentümlicher und erklärungsbedürftiger.

Die Aufklärung kam schließlich, als die Hypothese getestet wurde, es sei der Freiheitsraum, die relativ große Chance, die Dinge nach eigenem Urteil, nach eigener Entscheidung zu tun, die die Zufriedenheit der Selbständigen begründe.

Die dritte These der Analyse lautete: Sozialpolitik muß Phantasie entwickeln, wie für Menschen in allen Lebensbereichen mehr Freiraum für persönliche Entscheidungen gewonnen werden kann. Die Vorstellung, nur Eliten wüßten Freiheit zu schätzen, ist aufzugeben. Menschen aller sozialen Schichten empfinden Möglichkeiten persönlicher Mitwirkung oder Entscheidung als Selbstverwirklichung, als Stärkung, als Lebensqualität …

Die Frage „Glauben Sie an den Fortschritt - ich meine, daß die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegengeht - oder glauben Sie das nicht?” wurde in überwältigender Einhelligkeit 1972 beantwortet: 60 Prozent glaubten an den Fortschritt, 19 Prozent glaubten nicht daran, und noch extremer war die junge Generation (72 : 13) zuversichtlich gestimmt. Drei Jahre später war der Glaube an den Fortschritt bereits erheblich unterhöhlt. Bis 1977 war er noch weiter abgesunken.

Es ist bisher nicht ernstlich damit zu rechnen, daß Menschen im europäischen Kulturbereich ohne Fortschrittsglauben leben werden, die Frage nach dem Sinn des Lebens würde immer mehr zu schaffen machen. Aber die Inhalte werden sich wohl wandeln, das Ziel wird nicht unbedingt wirtschaftlicher Fortschritt sein. Die „Altemativzivilisa- tion” Iring Fletschers kann vor die Augen treten: moralischer Fortschritt, ästhetischer, Entfaltung der vielseitigen Natur des Menschen …

1966 beauftragten der Süddeutsche Rundfunk und der Südwestfunk das Institut für Demoskopie Allensbach mit einem Feldexperiment, das über eineinhalb Jahre, bis Herbst 1967 laufend, Haushalte vor und nach der Anschaffung des ersten Fernsehgeräts mit demographisch ähnlichen Haushalten („statistischen Zwillingen”) ohne Fernsehgerät verglich. Wenn wir jetzt, gut ein Jahrzehnt später, die damaligen Ergebnisse betrachten, müssen wir sagen, daß wir ihnen seinerzeit nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt haben. Von heute her gesehen, gewinnen sie eine eigentümliche Bedeutung.

Die auffallendsten Beobachtungen waren:

Erstens: Nach der Anschaffung eines Fernsehgerätes zeigte das Feldexperiment ein erhebliches Anwachsen des Interesses für Politik. Mit diesem Befund korrespondiert die folgende langfristige Beobachtung. In den zehn Jahren zwischen 1952 und 1962 blieb das politische Interesse in der Bevölkerung nahezu unverändert; die Zahl derer, die sich als politisch interessiert bezeichnete, pendelte zwischen 27 und 31 Prozent.

In den folgenden zehn Jahren, einer Zeitspanne, die mit der Ausbreitung des Fernsehens zusammenfiel, stieg der Anteil der politisch interessierten Bevölkerung auf rund 50 Prozent.

Zugleich änderte sich mit der Anschaffung des ersten Fernsehgeräts die Vorstellung von Politik, und zwar insbesondere bei den neuen Fem- sehbesitzem, die weniger als der Durchschnitt lasen. Politik erschien ihnen konfliktträchtiger, anderseits wurden die politischen Probleme für im Grunde leichter lösbar gehalten alä vor der Anschaffung des Fernsehgeräts. Die Überzeugung, über Politik ausreichend Bescheid zu wissen, breitete sich aus.

Zweitens: Das Familienleben veränderte sich nach der Anschaffung des ersten Fernsehgeräts, Gespräche zwischen Ehepartnern wurden eingeschränkt …

Drittens: Die Freude an der Arbeit verminderte sich nach der Anschaffung des ersten Fernsehgeräts. Dieser Befund überraschte 1967 ganz besonders. Während einer rund fünfzehn Jahre anhaltenden Periode der Verbesserungen, Erleichterungen am Arbeitsplatz, Verkürzung der Arbeitszeit, Vollbeschäftigung mit besseren Chancen zur Mobilität (das heißt Kündigung, wenn der Arbeitsplatz nicht gefiel), war ein eher steigende Arbeitsfreude zu beobachten gewesen.

Nicht sosehr der Gebrauch anderer Massenmedien wie Zeitung und Zeitschrift war durch das neue Medium zurückgedrängt worden, wohl aber praktisch alle aktiven Freizeitbeschäftigungen. Nach der Anschaffung des ersten Fernsehgeräts (und im Vergleich zur Kontrollgruppe) gab es weniger Kartenspiele, weniger Gesellschaftsspiele, weniger Basteln, Handarbeiten, weniger Briefe wurden geschrieben, es wurde weniger gewandert und weniger selbst musiziert.

Damals dachten wir wohl, wir hätten Übergangserscheinungen eingefangen, nach einer Gewöhnungszeit würde sich vieles wieder verlieren. Heute aber stehen wir vor einer Reihe von Veränderungep, die auffallend mit den damaligen Beobachtungen korrespondieren.

Der Zusammenhang zwischen relativ viel Fernsehen und der Bereitschaft, über Fragen jeder Art ein Urteil abzugeben, läßt sich nachweisen, und zwar auch unabhängig vom Grad der tatsächlichen Informiertheit des Befragten, es bildet sich also eine Art von Verstehens-Illusion.

Vielleicht entgeht dieser Bericht nicht dem oberflächlichen Urteil, er sei „femsehfeindlich”. Tatsächlich kann sicher nicht behauptet werden, das Fernsehen habe etwa nur beunruhigende Auswirkungen. Die günstigen müssen ebenfalls bedacht werden. Beispielsweise könnte durch das stark vermehrte Interesse für Politik die Widerstandskraft der ganzen Bevölkerung in Krisenzeiten gegen Demagogie gesteigert sein.

Oder eine andere möglicherweise positive Wirkung des Fernsehens:

Wie sehr wurde die wachsende Entfernung zwischen Bürgern und Regierung beklagt im immer komplizierter werdenden modernen Staatswesen. Davon würde man heute dank des Fernsehens kaum mehr sprechen.

Deutlich, in vielen Ergebnissen belegt, gaben jedoch die Besitzer eines ersten Fernsehgeräts Aktivität auf, sie wurden träger. Man kann an eigene Erfahrungen denken, man kann Thomas von Aquin über die „acedia” zitieren: Trägheit macht traurig. Je mehr davon, desto schwieriger ist der Übergang zur Tätigkeit. Die Kräfte wachsen nicht.

Die Autorin, Professor und Dr. phil., ist Gründerin und Leiterin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, BRD. Die vorstehenden Ausführungen stellen einen sehr kompressen Auszug aus einer im Original mit viel Beweismaterial belegten Arbeit dar, die in der Reihe „Texte - Thesen” der Edition Interforum (Zürich) veröffentlicht worden ist.

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