6828292-1974_24_06.jpg
Digital In Arbeit

Die „wilde Horde“

Werbung
Werbung
Werbung

Die extrem linksgerichtete Tageszeitung „Liberation“ vermochte bisher keine große Leserschar um sich zu versammeln. Trotzdem wurde sie des öfteren zitiert, weil der Chefredakteur dieser Publikation der Philosoph und Schriftsteller Sartre war. Dieser ist kürzlich aus Gesundheitsgründen zurückgetreten, aber sein Geist der Intoleranz lebt in diesem Blatt weiter. So konnten die Käufer dieser Zeitung ein vernichtendes Urteil über die Regierung lesen, die von Giscard d'Estaing am 28. Mai gebildet wurde. Der Kommentar sieht in diesem Regierungsteam eine wilde Horde von Zynikern, bereit, unzählige Pirouetten zu vollführen, oder, wie es wörtlich heißt, „die Wölfe sind nach Paris gekommen“. Diese Ausdrucksweise wird von einer vernünftigen Presse selbstverständlich nicht geteilt Selbst die sich Giscard d'Estaing gegenüber sehr skeptisch zeigende Abendzeitung „Le Monde“ sieht in seiner Equipe sehr viel Positives, obgleich „Le Monde“ während der Wahlkampagne eindeutig für Fran-cois Mitterrand Stellung genqgnmen hat

Die Regierung Jacques Chiracs, verbunden mit dem originellen Stil des eben gewählten Staatsoberhauptes, wird von den politischen Kennern als ein Beweis dafür angesehe. daß die Wahlversprechen des früheren Finanzministers nicht leere Worte sind, sondern daß ihnen Taten folgen sollen. Die unkomplizierte Art der Regierungsbildung hebt sich in angenehmer Weise von ähnlichen Ereignissen in der IV. und, man kann ruhig sagen, auch in der V. Republik ab. Es kam diesmal nicht zu verwik-kelten Verhandlungen mit den Parteien, die so beliebten Dosagen des parlamentarischen Regimes — man mußte auf die verschiedenen Clans und Flügel der Mehrheit Rücksicht nehmen, regionale und berufsständische Momente ins Auge fassen — wurden fast nicht beachtet. In dieser Regierung sollte sich die Mehrheit widerspiegeln, die Giscard d'Estaing an die Macht gebracht hat. Sie ist auf alle Fälle verschieden von jener Majorität, mit der 1969 Georges Pompidou den Sieg davontrug. Damals büdete die gaullistische Sammelpartei UDR, die die absolute Mehrheit im Parlament besaß, die Wirbelsäule dieser politischen Gruppierung. Der Einfluß der gaullistischen Barone, wie Debre, Chaban-Delmas und Olivier Guichard, war entsprechend und der Schatten de Generals lag, ins Riesengroße gewachsen, über dem Elysee-Palast. Wie vorsichtig mußte doch Georges Pompidou vorgehen, um nicht jene Männer herauszufordern, die in ihrer Orthodoxie eine festumrissene Vorstellung von Staat, Gesellschaft und der Rolle Frankreichs in der Welt hatten. Staat und Partei identifizierten sich und gestatteten kaum, daß andere Kräfte berücksichtigt wurden.

Nicht nur Sozialisten und Kommunisten waren in eine sterile Opposition gedrängt, auch das Zentrum, das sich später in die Reformbewegung verwandelte, konnte noch so viele Vorschläge unterbreiten oder vernünftige Ideen entwickeln, es wurde an die Wand gedrückt. Unvergessen bleibt der Ausspruch des Kulturministers Malraux, der sich zu einer der unglücklichsten Definitionen der Innenpolitik hinreißen ließ, als er verkündete, „Zwischen uns und den Kommunisten existiert nichts anderes“. Es gehörte viel Mut und Ausdauer dazu, um mit Jean Lecanuet zu glauben, daß dieses Zentrum ohne sichere Konturen einmal wieder höchste Verantwortung tragen könne. Das Mirakel des 19. Mai ist sicherlich die Renaissance der Mitte und so konnten die beide Baumeister dieser Erneuerung mit Berechtigung Schlüsselpositionen in diesem Kabinett beanspruchen. Wenn der intime Berater Giscard d'Estaings, Fürst Poniatowski, das Innenministerium verwaltet und Jean Lecanuet, den Traditionen gemäß, als Justizminister der zweite Mann des Kabinetts wurde, so ent-

spricht dies dem Kräfteverhältnis und dem psychologischen Klima, in dem Giscard d'Estaing zum Präsidenten der Republik gekürt wurde. Diese Tatsachen haben zwangsläufig eine Verminderung der gaullistischen Minister mit sich gebracht. Ministerpräsident Jacques Chirac gehört der gaullistischen Sammelpartei an, darf aber nicht als ihr unmittelbarer Ausdruck bezeichnet werden. Der Vertraute des verstorbenen Staatspräsidenten Pompidou hatte sich niemals in die Phalanx der Ur-gaullisten eingereiht und war erst sieben Jahre alt, als General de Gaulle am 18. Juni 1940 von London aus seinen historischen Aufruf an die Nation richtete. Das gewaltige Generationserlebnis des Widerstands, von dem sich Tradition und Legende des Gaullismus ableiten, ist kein integrierender Bestandteil im Persönlichkeitsbild des Ministerpräsidenten. Georges Pompidou hatte sich während seiner Amtszeit einige „junge Löwen“ herangezogen, die in erster Linie seiner Person verpflichtet waren. Diese Männer, hervorragende Produkte der berühmten Pariser Verwaltungsakademie, standen im Gegensatz zu den ergrauten Kämpfern des Regimes. Wer etwas hinter die Kulissen der UDR geblickt hatte, konnte kaum verwundert sein, daß Jacques Chirac und seine Freunde die Kandidatur Chaban-Delmas' ablehnten und sich zu einem Mann hingezogen fühlten, der die politische Wirksamkeit viel besser inkar-niert

Die UDR als solche ist nicht im Kabinett vertreten und die als Gaullisten deklarierten Minister sind keineswegs das offizielle Aushängeschild der Partei. Der neue Verteidigungsminister Jacques Soufflet ist der weiteren Öffentlichkeit ebenso

unbekannt wie der Inhaber des Portefeuilles für das so vielversprechend klingende Ministerium der Lebensqualität. Die UDR hat nur zögernd, mißgestimmt und unter etlichen Reserven verlautbaren lassen, daß sie bis auf weiteres das Kabinett Chirac unterstützen werde. Kann sie es jedoch wagen, ihrem Unmut soweit nachzugeben, daß sie zu gegebener Zeit der Regierung das Mi. trauen ausspricht? Im Falle von Parlamentsneuwahlen — die linke Union spekuliert darauf und hofft in den nächsten zwei Jahren die 49,28 Prozent in 51 Prozent zu verwandeln — ist anzunehmen, daß die UDR so schwere Einbußen erleidet, daß sie selbst in der Kammer nur noch eine Mittelpartei darstellen könnte. Die Abgeordneten werden reiflich überlegen, ob sie dieses Harakiri wagen und den „Baronen“ folgen sollen, die eventuell ihre Abneigung gegen Giscard d'Estaing abzureagieren gedenken. Dennoch sei prophezeit, daß der Staatschef mit viel verwickeiteren und subtileren Argumenten im Parlament arbeiten muß, um diese heterogene Mehrheit bei der Stan-., zu halten.

Wie zu erwarten war, findet sich in der Regierung neben den Politikern eine Anzahl neutraler Fachleute. Das Unterrichts- und das Außenministerium wurden Persönlichkeiten übertragen, die sich, wie der Ti-tular des Ressorts für Finanz und Wirtschaft, als Experten ausweisen können. Zu großen Hoffnungen berechtigt die Ernennung des bisherigen Botschafters in Bonn, Jean Sau-vagnargues, der Jobert am Quai d'Or-say ablöst. Diese Ernennung darf als ein Hinweis darauf angesehen werden, wie sehr Giscard d'Estaing die deutsch-französische Zusammenarbeit zu verstärken wünscht und sie

als Grundlage einer konstruktive Europapolitik ansieht. Bezeichnenderweise war die erste außenpolitische Konferenz des Staatschefs einer Begegnung mit Bundeskanzler Schmidt gewidmet. Optimisten an der Seine sprechen bereits von ebenso engen Relationen zwischen den beiden wichtigsten Kontinentalstaaten, wie sie zu Zeiten Adenauers und de Gaulies bestanden haben. Bonn hat seine Bereitschaft erklärt, die Wirtschafts- und Sozialpläne Giscard d'Estaings großzügig zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist wieder von einem Kredit der Bm. desrepublik an Frankreich in einer Höhe von 3 Milliarden DM und einer massiven Investitionstätigkeit deutscher Industrieller im Nachbarland die Rede. Giscard d'Estaing wird, soweit sich dies aus den bisherigen Erklärungen ablesen läßt, entschlossen die europäische Karte aussp.' len. Nach den schweren Krisen, die die EG seit dem Nahostkrieg erschüttert haben, taucht zum ersten Mal ein Silberstreifen am recht düsteren Horizont Europas auf.

Eine Beurteilung des Kabinetts Chirac wäre unvollständig, würde man nicht auch auf das Überraschungsmoment bei der Regierungsbildung eingehen. Einer der heftigsten Gegner zahlreicher Lieblingsoptionen der V. Republik, der Herausgeber der Wochenzeitschrift „Express“ und Präsident der Radikalsozialistischen Partei, Jean-Jacques Servan-Schreiber, sollte beweisen, daß er nicht nur journalistisch gut aufgemachte Pläne entwirft, sonnern auch in der Lage ist, diese zu verwirklichen. (Er wurde in der Zwischenzeit, nach einem Protest gegen den neuen Atombombenversuch auf Mururoa, vom Präsidenten des Amtes enthoben.)

Die „wilde Horde“ der „Liberation“ ist in Wirklichkeit ein ausgewogenes Team, eine neue Generation von Politikern und Verwaltungsfachleute die in der Öffentlichkeit auf Sympathien stößt und sogar die Gewerkschaften zwingt, anstelle harter Kampfansagen vorerst den Weg der Verhandlungen zu gehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung