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Die Zeitzeugin Hilde Spiel

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Ein Jahr nach dem Band "Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911-1946" kommt als Fortsetzung die kritische und erstaunlich selbstkritische Beschreibung einer langsamen, lange verzögerten Heimkehr der schon 1936 Emigrierten heraus. "Welche Welt ist meine Welt?" fra-gen sich diese "Erinnerungen 1946-1989", mit gutem Recht.

Denn jene englische Welt, in der Hilde Spiel ein Vierteljahrhundert zu Hause war - selbst dann, wenn sie in offiziöser Funktion während der Nachkriegszeit für Londoner Blätter in Berlin arbeitete -, war ihre Welt geworden, zusätzlich allerdings, denn schon bei den ersten Besuchen spürt sie, daß Österreich nach wie vor auch ihre Welt geblieben ist. Immerhin hat sie viel später, bereits über siebzig und verwitwet, für ein Jahr das berufliche Angebot akzeptiert und ist noch einmal nach England gegangen, als Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Die insgesamt 600 Seiten dieses zweibändigen Lebensromans be-schreiben kein Roman-Leben, wohl aber ein dramatisches mit "hellen" und "finsteren" Auftritten, den Ex-tremen der Epoche entsprechend. Merkwürdig daher und trotzdem realistisch: Manches liest sich als Schilderung in Schwarzweiß-Manier, doch so kraß unterschiedlich müssen viele Begegnungen der so weit Herumgekommenen erschei-nen; sie sind schier ohne Zahl, ein endloses Namensregister an den Buchenden belegt es. Jeder und alles wurde von der intensiv Lebenden und Erlebenden wichtig genommen, in Notizbüchern auf Tag und Stunde kalendriert, und kann jetzt ausführlich rekapituliert wer-den. Man kann, noch älter als die Berichterstatterin, aus eigener Erfahrung da und dort anderer Meinung sein, aber die Fakten stimmen fast immer. Winzige Un-genauigkeiten beschränken sich auf Nebenbemerkungen, die einst offenbar nicht genauer festgehalten wurden. (Etwa die Erwähnung "Lilli Kanns, einer Freundin Karl Kraus'", die ich gut kannte, irrt beim Vornamen: Sie hieß Helene Kann.)

Die literatur- und ge-sellschaftskritische Schriftstellerin Hilde Spiel ist längst eine öffentliche Person geworden; ihre scheinbar pri-vaten Freund- oder Feindschaften haben Öffentlichkeitsrecht erhalten. "Die nächsten Seiten mag überblättern, wer will. All die Querelen..., in die ich nun jahr-zehntelang verstrickt sein sollte, die ich auch zuweilen - manchmal aus Übermut, meist in Notwehr - selbst entfachte", sind gravierend, auf-schlußreich, und diese schwierige Balance zwischen "Übermut" und "Notwehr" einfach zu "überblät-tern", wäre zu einfach.

Denn in diesem seelischen Span-nungsfeld liegen, folgenschwer, manche persönlich berechtigten Ungerechtigkeiten. Ohne daß sie es erklären muß, wird es erklärlich, warum sie manchen problemati-schen Charakter hochschätzt (etwa Heimito von Doderer und Thomas Bernhard) und manche bedeutende Figur, gelinde gesagt, distanziert beurteilt: Elias Canetti, Karl Kraus oder den "Freundfeind" Friedrich Torberg. Zweifellos gab es Anlässe für beide Haltungen, und Hilde Spiel läßt es - in ihrer entwaffnenden Art - offen, wer den entscheidenden Anlaß gegeben hat.

Orte der Handlung sind große Teile Europas, auch die Vereinigten Staaten, sowie Personen, die in diesen Ländern eine Haupt- oder Nebenrolle gespielt haben. Sie spielten zeitweise eine Rolle im Leben der Berichtenden, werden streng oder nachsichtig bewertet, je nachdem, und es kann immer wie-der zum faszinierenden Leseabenteuer werden, eine wohlbekannte Gestalt in einer bisher unbekannten Pose zu erblik-ken, literarische Momentaufnahmen, die ein gewohntes Bild - also sagen wir - auf pikante Weise ergänzen.

Der erste Band, dessen Inhalt für die meisten Leser "historisch" ist, mag der "lehrreichere" sein; der zweite, von der frühen Nachkriegszeit bis in die jüngste Vergangenheit reichend, mag für direkt Betroffene als brisant empfunden werden; aber. ,,Sie spürt genau, was man mitteilen kann und soll und was man verschweigen darf und muß" - so Marcel Reich-Ranic-ki über das Buch. Sein Urteil wird auf dem Umschlag zitiert; er hat, man weiß es, nicht immer recht, aber diesmal schon.

WELCHE WELT IST MEINE WELT? Von Hilde Spiel. Paul List Verlag, München 1990.333 Seiten, öS 310,40.

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