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Die Zukunft hat 1949 begonnen

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Seit 1949 gibt es zwei deutsche Staaten. Die Vor- und Nachgeschichte des Grundgesetzes der Bundesrepublik beziehungsweise der Verfassung der DDR zeigen eine Menge verpaßter Chancen zur Herstellung der Einheit.

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Seit 1949 gibt es zwei deutsche Staaten. Die Vor- und Nachgeschichte des Grundgesetzes der Bundesrepublik beziehungsweise der Verfassung der DDR zeigen eine Menge verpaßter Chancen zur Herstellung der Einheit.

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Das Grundgesetz der Bundesrepublik beziehungsweise die Verfassung der DDR als Stunde Null und Von-heute-auf mor-gen-Anfang zweier deutscher Staaten in Dezennien zu feiern, ist zwar von der Notwendigkeit periodischer Besinnung berechtigt, historisch jedoch kaum zu halten. Die Staatswerdung zog sich über Jahrzehnte hin; sowohl das Auseinanderdriften der beiden deutschen Staaten als auch die ständig beschworene Sehnsucht nach

Einheit haben ihre Geschichte, waren und sind, den Polit-Um-ständen entsprechend, Veränderungen ausgesetzt.

Die im Jahre 1947 im Westen Deutschlands einsetzende Demoskopie dokumentiert die zähe Ablösung Deutschlands von der Ära des Nationalsozialismus und das Wachsen der Identifikation mit dem (den) neuen Staatswesen.

Bei einem Kongreß der Konrad Adenauer-Stiftung über „40 Jahre Grundgesetz“ Mitte Februar im Berliner Reichstag (FURCHE 8/ 1989) präsentierte Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach Ergebnisse der Meinungsforschung aus vierzig Jahren: Demoskopie als Geschichtsquelle.

Dabei wurde deutlich, wie langsam Korrekturen politischer Meinungen imd Einschätzungen von der Bevölkerung vollzogen wurden: So hielten Mitte der fünfziger Jahre 50 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik die These für richtig, Hitler wäre ohne den Krieg einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen. Mitte der sechziger Jahre waren es nur mehr 26 Prozent. 54 Prozent bezeichneten in den sechziger Jahren den nationalsozialistischen Staat als Verbrecherregime, Ende der siebziger Jahre stieg der Anteil dann auf mehr als 70 Prozent.

Die Ansicht über die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg wurde von den (West-)Deutschen ähnlich spät korrigiert: 43 Prozent sahen Mitte der fünfziger Jahre die Schuld für den Kriegsausbruch bei Deutschland, 51 Prozent in den sechziger Jahren und 62 Prozent Ende der sechziger Jahre.

Vier Jahre nach Ende des nationalsozialistischen Regimes gab es im Gebiet der Bundesrepublik eine Repräsentativbefragung über die Stärke antijüdischer Ressentiments. Renate Köcher: „Die Daten machen betroffen. Vier Jahre nach Kriegsende hat die große Mehrheit der Bevölkerung nur wenig konkretes Wissen über die Zahl getöteter und aus Deutschland ausgewanderter Juden.“

Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen nimmt erst in den sechziger und siebziger Jahren kontinuierlich ab. Unbegründet sei - so Renate Köcher - die Sorge über einen wiedererstarkenden Antisemitismus in den letzten Jahren. „Die Demoskopie hat hier eine wichtige Funktion: Sie trägt dazu bei, die Entstehung historischer Legenden zu verhindern. Die Trendreihen widerlegen die Legende einer Stunde Null, einer radikalen Umorientierung am Beginn dieser Republik. Sie widerlegen jedoch auch Legenden, daß die deutsche Bevölkerung wieder empfänglicher wird für nationalsozialistisches Gedankengut und insbesondere antisemitische Einstellungen.“

Die Demoskopie relativiert auch das heute oft beklagte Desinteresse an Demokratie, herrschende Verunsicherungen, angeblich wachsendes soziales Mißtrauen. Es seien gerade die fünfziger Jahre gewesen, die in den Trendreihen der Demoskopie als

Phase der Unsicherheit und wenig gefestigter demokratischer Uberzeugungen zu erkennen seien. „^ie wieder hat in der Nachkriegszeit das soziale Mißtrauen den Grad erreicht, der Anfang der fünfziger Jahre gemessen wurde, als über 80 Prozent der Bevölkerung überzeugt waren, daß man den meisten Menschen nicht vertrauen kann. Erst Mitte der sechziger Jahre war diese Periode sozialer Kälte zu Ende.“ Das Vertrauen in die Abgeordneten, in die Demokratie, das Interesse am jungen Staat ist erst langsam gewachsen. Das Grundgesetz beispielsweise hatte Ende der sechziger Jahre noch nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, heute „sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung vom Wert des Grundgesetzes für diesen Staat überzeugt“ (Köcher).

Die Soziologin beschreibt aufgrund der Zeitreihen die ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik als einen „Prozeß der Gesundung“. Nach diesen zwei Jahrzehnten sei plötzlich eine radikale Veränderung der Wertvorstellungen der Bevölkerung eingetreten, sodaß die Periode der endsechzi-ger Jahre als die einschneidendste Veränderung in der Geschichte der Bundesrepublik gesehen werden muß.

Der Freiburger Politologe Wolf gang Jäger spricht in diesem Zusammenhang vom „Mythos“ der 68er Rebellion und dem einer irmeren Neugründung von 1969. Wohl aber sei die stark gouverne-mentale Ausrichtung der politischen Kultur der Adenauer-Ära seit den sechziger Jahren in einem — seiner Meinung nach — besorgniserregenden Ausmaß korrigiert worden: Von der Tradition des Obrigkeitsstaates zu einem prinzipiellen Mißtrauen gegenüber Autorität in allen Lebensbereichen. Die Aneignung der durch den Bürger selbst interpretierten Freiheit konnte - so Jäger - in Deutschland erst nach Gründung der Bundesrepublik einsetzen, „da es ja eine Revolution oder einen Freiheitskampf nicht gab, die zur Verfassungsgebung führten. Das Grundgesetz war trotz aller Anerkennung der Arbeit des Parlamentarischen Rates eben doch ein Geschenk der alliierten Sieger an das deutsche Volk.“

Im Rahmen der’Geschichte der Akzeptanz des Grundgesetzes spiele daher auch die Protestbewegung der sechziger Jahre - „soweit sie als Motor der Demokratisierung in der Bundesrepublik

Deutschland erirmert wird“ - eine kaum zu überschätzende Rolle.

Und wie präsentiert sich die heutige Bundesrepublik der Demoskopie? Renate Köcher ortet ein Drittel der Bevölkerung, das das eigene politische Wertesystem von keiner Partei repräsentiert sieht. „Der Anteil, der von allen vier im Bundestag vertretenen Parteien enttäuscht ist, liegt heute höher als vor der Entstehung der Grünen.“

Einen hohen Stellenwert bei den Anliegen der bundesdeutschen Bevölkerung nimmt gegenwärtig die Frage nach Behandlung von Ausländern und Asylanten ein: Hier sind die Haltungen seit Jahren stabil. Schon Anfang der achtziger Jahre bewerteten 71 Prozent der Bevölkerung die Anerkennungsverfahren als zu großzügig, 61 Prozent äußerten dezidierte Zweifel, ob es sich bei den meisten Asylanten um politisch Verfolgte handle. Acht von zehn Bundesbürgern halten den Ausländeranteil in der Bundesrepublik für überhöht. Nur die Hälfte der Bevölkerung unterstützt jenen Artikel des Grundgesetzes, der politisch Verfolgten das Recht auf Asyl einräumt.

Europa ist ein anderes Thema, bei dem sich die Bundesbürger von den politischen Prioritäten der Parteien entfernt haben. Die Europabegeisterung hält sich in Grenzen, das Interesse an der europäischen Integration ist deutlich gesunken.

Auch das Fundament der Akzeptanz der Bundeswehr brök-kelt.

Und wie sieht Bundeskanzler Hehnut Kohl die Lage? Bei dem’ erwähnten Kongreß der Konrad Adenauer-Stiftung ortete er einen Mangel an historischen Kenntnissen in der Bundesrepublik („Sie tendieren gegen Null“). Die Generationen müßten mehr miteinander sprechen, meinte Kohl; dann wüade dem Enkel, dessen Vater heute in eine politische Partei eintrete, um Amt-maim zu werden, klar, warum Oma dem Opa 1939 geraten habe, in die NSDAP einzutreten.

Kohl ist von der Begeisterungsfähigkeit der Deutschen überzeugt (die Sternsinger sind für ihn das Paradebeispiel), kritisiert aber den „Zug ins Private“ und ein „Leben nach Urlaubsmaxi-mierung“. Die deutsche Jugend müßte wieder idealistischer werden, auch wenn ,4rgendein Esel der Jugend eingeredet hat, daß Idealismus ein faschistisches Wort“ sei.

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