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Die Zukunft im Sozialprogramm

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Wie die Meinungsforschungsinstitute richtig prophezeit hatten, wurde der dritte Präsident der Fünften Republik und der zwanzigste seit 1871 nur mit einer hauchdünnen Mehrheit gewählt. Der Sieg Giscard d'Estaings ist mit jenem Kennedys über Nixon zu vergleichen. Während jedoch in den USA die politischen Strukturen keine definitive Verschiebung erfuhren, setzt mit dem 19. Mai 1974 in Frankreich der Beginn einer neuen Epoche ein. Nachdem der erste Schock dieser Entscheidung verflogen ist, können die Politologen, die Parteien und Kommentatoren der Tages- und Wochenpresse eine Synthese ihrer Schlußfolgerungen ziehen. Der Wahlkampf war zwar hart, aber zeigte große Würde, und bis in die letzten Tage vor dem zweiten Wahlgang kam es weder zu üblen Entgleisungen persönlicher Natur noch zu blutigen Zwischenfällen. Selbst von der Insel Korsika, berüchtigt dafür, daß in Wahlzeiten die Messer locker sitzen, sind keine tätlichen Auseinandersetzungen gemeldet worden.

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Wie die Meinungsforschungsinstitute richtig prophezeit hatten, wurde der dritte Präsident der Fünften Republik und der zwanzigste seit 1871 nur mit einer hauchdünnen Mehrheit gewählt. Der Sieg Giscard d'Estaings ist mit jenem Kennedys über Nixon zu vergleichen. Während jedoch in den USA die politischen Strukturen keine definitive Verschiebung erfuhren, setzt mit dem 19. Mai 1974 in Frankreich der Beginn einer neuen Epoche ein. Nachdem der erste Schock dieser Entscheidung verflogen ist, können die Politologen, die Parteien und Kommentatoren der Tages- und Wochenpresse eine Synthese ihrer Schlußfolgerungen ziehen. Der Wahlkampf war zwar hart, aber zeigte große Würde, und bis in die letzten Tage vor dem zweiten Wahlgang kam es weder zu üblen Entgleisungen persönlicher Natur noch zu blutigen Zwischenfällen. Selbst von der Insel Korsika, berüchtigt dafür, daß in Wahlzeiten die Messer locker sitzen, sind keine tätlichen Auseinandersetzungen gemeldet worden.

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Die Kampagne zeigte amerikanische Züge und wurde mit allen technischen Hilfsmitteln durchgeführt. Der Höhepunkt war sicherlich das Duell vor den Fernsehkameras, das am 10. Mai zwischen Giscard d'Estaing und Franpois Mitterand stattfand und nach Meinung objektiver Beobachter zugunsten des Finanzministers ausging. Eine besondere Rolle in diesen dramatischen Wochen spielten die Publikationen der demoskopischen Umfragen. Es taucht unweigerlich eine entscheidende Frage auf: Wieweit haben diese Enqueten die Wähler beeinflußt, für diese und nicht für eine andere Persönlichkeit ihre Stimme abzugeben? So kann man den Erfolg Giscard d'Estaings gegenüber dem zweiten Kandidaten der früheren Mehrheit, Chaban-Delmas, auf die Veröffentlichung dieser Umfragen zurückführen. Nach Bekanntgabe der beiden Kandidaturen registrierten der ehemalige Ministerpräsident und der langjährige Finanzminister beide 25 Prozent der Stimmen. Sehr schnell haben die demoskopischen Institute die Wähler aufgeklärt, daß Giscard in der Gunst seiner Mitbürger führe, zumindest soweit es Die Pompidou-Majorität betraf. Viele Wahlberechtigte wollten ihr Votum nützlich anlegen, und, obwohl ursprünglich auf Chaban-Delmas eingeschworen, bekehrten sie sich zum besser placierten Politiker. Von verschiedenen Seiten wurde der Vorschlag erbracht, in Wahlperioden derartige Untersuchungen nicht zu veröffentlichen. Der Interimspräsident Poher hat in letzter Minute und nach Beendigung der Kampagne die Zeitungen ersucht, sie mögen keine weiteren Hinweise über die Positionen der Restkandidaten geben. Hier stehen sich zwei Schulen gegenüber, aber man kann nicht leugnen, daß die demoskopischen Untersuchungen zur Orientierung der Bürger von Nutzen sein können.

Ein zweites Moment läßt sich aus diesen Wahlgängen abmessen. Die Rekordbeteiligung an der Wahl, besonders am 19. Mai — seitdem Frankreich das allgemeine Wahlrecht einführte, sind noch nie so viele Menschen zur Urne gegangen —, beweist, daß die Institutionen der V. Republik, wie sie von General de Gaulle 1958 konzipiert wurden, von der Nation akzeptiert werden. Wir erinnern, daß Francois Mitterand heftig gegen die gaullistische Verfassung aufgetreten ist und in ihr die Kennzeichen eines .permanenten Staatsstreiches' zu erkennen glaubte. Nun haben auch die Linksparteien die zwei wesentlichen Grundlagen des politischen Lebens Frankreichs anerkannt: die Volkswahl des Staatsoberhauptes und die überragende Stellung des Präsidenten der Republik. Es war wirklich etwas komisch, zu beobachten, wie sozialistische Staatswissenschaftler die Gefahr einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten verniedlichten, indem sie auf die zahlreichen Prärogativen des Staatspräsidenten hinwiesen. Dieser würde, so lautete die Verteidigung, jeden Versuch der KPF verhindern, mehr Einfluß zu gewinnen, als die Wähler ihr zubilligten oder eine Neuauflage des Coups von Prag vorzubereiten. Hier hat General de Gaulle dem Staat eine Stabilität gegeben, die sich positiv von den Zuständen der III. und besonders der IV. Republik abhebt.

Mögen oft Programme zitiert worden sein — das berühmte Gemeinsame Programm der Sozialisten und Kommunisten 1972 gab zu zahlreichen Polemiken Anlaß —, so war die Phase zwischen dem 5. und 19. Mai vom Auftreten der letzten Kandidaten charakterisiert. Die Wähler mußten sich für einen bestimmten Menschentyp entscheiden und sowohl Giscard d'Estaing wie Franpois Mitterand haben in den letzten 14 Tagen keine Gelegenheit versäumt, mit Hilfe der Massenmedien ihr Image zu profilieren und zu polieren. Giscard d'Estaing ist dies ohne Zweifel besser gelungen als seinem Konkurrenten. Die Wähler beurteilten den Finanzminister intelligenter, kompetenter, seriöser und fähiger, die prinzipiellen Probleme der Gegenwart zu lösen. Dieses Urteil stammt von den bekannten Politologen Denis Lindon und Pierre Weill. Mitterand wäre demnach menschlicher und in der Lage, der Nation einen gewissen sozialen Frieden zu sichern. Man traute jedoch dem Kandidaten der linken Union nicht zu, die schwerwiegenden wirtschaftlichen Krisen der nächsten Zukunft zu bannen. Die Achillesferse des Gemeinsamen Programmes waren die oft utopischen Vorstellungen, die sich die Linke von der komplexen Situation der Ökonomie in einem modernen Industriestaat machte. Auch der berühmteste politische Philosoph der Linken, Professor Maurice Duverger, kommt zu dem Schluß, daß die Plattform der Sozialisten und Kommunisten unbedingt einer Revision bedurft hätte. Et denkt dabei in erster Linie an manche Unklarheiten auf dem Gebiet der Nationalisierungen, die zu Mißverständnissen führten. Die bereits zitierte Fernsehdiskussion veranlaßte zahlreiche Wähler der Mitte, doch Giscard d'Estaing zu wählen, da er sich am ehesten den Vorstellungen vom Präsidenten der Republik genähert hatte. Die vielgelästerten Meinungsumfragen stellten nach diesem erinnerungsschweren Abend fest, daß der Finanzminister schneller in die Figur des großen Staatsmannes hineingewachsen war als Francois Mitterand. Der Kandidat der linken Union ist sicherlich eine bedeutende Persönlichkeit, ein glänzender Redner, der es versteht, die Massen mitzureißen und zukunftsweisende Perspektiven zu setzen. Aber wie sein Symbol, die langstielige Rose, zeigt diese Person auch Dornen. Jeder, der so wie der Verfasser dieser Studie Franpois Mitterand seit 1947 kennt und von Zeit zu Zeit begegnet, muß sich sagen, daß dieser gewiegte Politiker zu sehr mit allen Wassern gewaschen ist, etwas undefinierbar Schillerndes eines Opportunisten als unauslöschliches Siegel mit sich trägt. Franpois Mitterand ist das glänzende Produkt eines Regimes, in dem die Kabinette und Portefeuilles in kleinen Kreisen ausgehandelt, persönliche Intrigen akzentuiert und das politische Leben in der Plüschatmosphäre der Parteisekretariate und des Palais Bourbon abgerollt wurden. Wir verkennen nicht, daß Franpois Mitterand zu dieser Epoche seines Lebens Abstand gewonnen hat. aber ganz konnte er die Eierschalen der IV. Republik nicht abstreifen. In den Augen vieler seiner Mitbürger ist er ein vorzüglicher Oppositionschef, aber nicht die letzte Inkarnation des konzentrierten Willens der Nation. Dennoch war er der Meister des nicht zu unterschätzenden Erfolges der geeinten Linken und ihr einzig möglicher Kandidat. Wie Giscard d'Estaing in der Wahlnacht es ausgedrückt hat, wird Franpois Mitterand auch in der nächsten Zeit eine überragende Stelle einnehmen können.

Vieles hing von dem Eindruck ab, den sich Frankreich von dem Mann zu machen hatte, der durch 7 Jahre die Geschicke des Volkes wesentlich inspirieren muß. Aber jenseits der Persönlichkeiten standen zwei politische Philosophien und zwei Systeme einer Gesellschaftsordnung einander gegenüber. Hier der Liberalismus mit allen seinen Schwächen und der Notwendigkeit, Auswüchse eines in Frankreich bestehenden Neo-Kapitalismus zu revidieren. Georges Pom-pidou hatte die Industrialisierung seines Landes forciert, um einen modernen Produktionsapparat zu schaffen, was ihm im großen und ganzen gelungen ist. In dieser Entwicklung haben jedoch Millionen von Arbeitern und Ausgeschlossenen, wie Rentner, ältere Frauen und Jugendliche, nicht Huren Platz gefunden. Die so Enttäuschten flüchteten sich in das Ghetto der Kommunistischen Partei und glaubten sich frustriert General de Gaulle hat mehrfach bewiesen, daß große Kreise der arbeitenden Welt sich keineswegs für immer und ewig der Kommunistischen Partei verpflichtet fühlen. Aber diese Leute haben den Eindruck, daß sich alleine die KPF ihrer annimmt. Wie oft hört man in Paris, wenn man in sozialen Dingen etwas erreichen will, die stereotype Antwort: „Da müssen Sie zum Herrn Pfarrer oder zur Kommunistischen Partei gehen!“ Eine arrogante, abweisende Zentralbürokratie bemüht sich nicht, die Probleme des täglichen Lebens etwa mit dem Herz zu lösen, sondern dies geschieht in der abweisenden Atmosphäre triumphierenden Machtbewußtseins. Hier sei nur darauf hingewiesen, wie sehr die Pariser Ministerialbürokra-tie die Rechte der Regionen einengt, sie verkümmern läßt und mit welcher Rücksichtslosigkeit 3,5 Millionen Fremdarbeiter behandelt werden. Als Wahrzeichen dieser Zitadelle galt während 15 Jahren die gaullistische Sammelpartei UDR, die für sich den Spruch Ludwigs XIV. realisierte: „Der Staat bin ich.“ Das haben die kleinen Leute überdrüssig, sie wollen nicht mehr Roboter in einer perfekten Maschinerie sein, sondern auch Menschen, die lachen und weinen können. Dies hat Giscard d'Estaing erkannt, als er davon sprach, daß nicht nur der Verstand, sondern künftighin auch das Herz die sozialen Beziehungen dominieren soll.

Auf der anderen Seite wurde den Wählern ein Sozialismus französischer Machart mit menschlichem Antlitz präsentiert. Der französische Sozialismus, der nicht mit dem Marxismus verwechselt werden darf, hat zur Emanzipation der arbeitenden Klasse und zur Besserstellung großer Volkskreise viel beigetragen und diese historische Leistung muß anerkannt werden. Franpois Mitterand hat des öfteren betont, daß die Zukunft der Sozialdemokratie gehöre, und zitierte zu oft und zu gerne die Vorbilder Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Großbritannien, Niederlande und Schweden. Er legte ein Bekenntnis zu den Idealen der Sozialistischen Internationale ab. Es ist anzunehmen, daß Mitterand Präsident geworden wäre, ohne den Mühlstein, den er sich durch die Allianz mit den Kommunisten um den Hals gehängt hatte. Denn die Unsicherheit trat zutage, als der linke Kandidat verkündete, er wolle sechs bis sieben kommunistische Minister in ein Kabinett unter der Leitung eines Sozialisten aufnehmen. Ist die Kommunistische Partei eine Partei wie jede andere, vielleicht radikaler in ihren Sozialforderungen, aber durchaus bereit, das Spiel einer pluralistischen Demokratie anzunehmen? Wie schon dm März 1973, hörte man immer wieder die Frage: Was geschieht, wenn die KPF an die Macht kommt? Wird sie sich mit einigen Reformen begnügen oder über kurz oder lang dank ihrer Dynamik und einem vorzüglich eingespielten Parteiapparat die Sozialisten an die Wand drücken und die gleiche Entwicklung einleiten wie in der Tschechoslowakei und Ostdeutschland nach dem Kriege?

Die Mehrheit der Bürger Frankreichs hat entschieden, daß das Risiko eines solchen Abenteuers zu hoch ist. Wie immer, haben die meisten das Gemeinsame Programm nicht oder unzureichend studiert. Genauso wie man seinerzeit verschmäht hat, Hitlers „Mein Kampf“ zu lesen. Wer dieses Grundsatzdokument analysiert, wird erkennen, daß sich ein kollektivistisches Modell hinter dem Slogan der „fortschrittlichen Demokratie“ verbirgt. Franpois Mitterand hat wohl nachdrücklich die These vertreten, er werde nur 9 Monopolkonzerne verstaatlichen, aber vorsichtigerweise verschwiegen, daß jeder Betriebsrat in jedem Werk den Wunsch nach Nationalisierung der Regierung oder dem Parlament vorlegen kann. Da fast alle Betriebsräte mehrheitlich von den Gewerkschaftsorganisationen CGT und CFDT gebildet werden, kann man mit Fug und Recht annehmen, daß in einer Kaskade von Willenserklärungen fast alle Betriebe Frankreichs in den Bereich der staatlichen Bürokratie übergeleitet worden wären. Das Gemeinsame Programm spricht weiter von einer „direkten Demokratie“ und projektiert die Bildung von Hausvertrauensleuten, die sich zu Bezirksversammlungen und diese zu Städteräten zusammensetzen, das natürlich neben der offiziellen staatlichen Verwaltung. Hier würde der NS-Blockwart unseligen Angedenkens herrliche Triumphe feiern.

Wir haben immer die Meinung vertreten, daß die französische Nation diese Form der Gesellschaftsordnung nicht will und die letzten Konsequenzen eines marxistisch-leninistischen Systems ablehnt. Der 19. Mai hat diese Behauptung bestätigt. Nun wird Giscard d'Estaing schnell mit der harten Wirklichkeit konfrontiert werden. Die Einheitsdynamik der linken Union ist lebendig und der neue Präsident der Republik kann sich nicht auf eine große strukturierte Partei stützen. Die UDR sitzt im Schmollwinkel und hat solche Verluste erlitten, daß sie in Zukunft nicht als ausschlaggebender Faktor der Präsidentschaftsmajorität gelten kann. Die eigene Partei Giscard d'Estaings, die Unabhängigen Republikaner, ist ein loses Wahlbündnis und nicht in der Lage, ein Gegengewicht zur KPF zu sein. Auch das Zentrum Lecanuets, so sympathisch es sein mag, verfügt bis auf weiteres nicht über eine Massenorganisation. Die wichtigste Aufgabe Giscard d'Estaings besteht darin, den heimatlosen Gaullisten — er erhielt 85 Prozent der Chaban-Delmas-Stimmen — ebenso in einer Organisation aufzufangen wie die liberale Mitte, deren ausgeprägter Individualismus dem neuen Präsidenten manche Schwierigkeiten bereiten wird. Geht es in der Innenpolitik darum, die Grundlagen der politischen Geographie den Tatsachen des 19. Mai anzupassen, so wird die neue Regierung in erster Linie soziale Initiativen ergreifen müssen, die sich im Wählerwillen eindeutig ausgedrückt haben. Vom Vermögen oder Unvermögen, die sozialen Aspirationen zu erfüllen, wird die Zukunft der Republik Giscard d'Estaings abhängen. v

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