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Die zweite innerdeutsche Mauer

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Der junge Mann aus Thüringen arbeitet als Monteur in einer sieben-bürgisahen Fabrik. Zu Hause geht das relativ hohe Gehalt von 800 Mark weiter, während er in Rumänien neben dem freien Hotelzimmer noch 150 Lei täglich dazuverdient. Er kennt alle anderen Staaten des Comecon, einschließlich der UdSSR selbst. Sein Urteil steht fest und überzeugt: „Wir in der DDR können da noch zufrieden sein!“

Der entscheidende Vergleichsmaßstab der DDR-Bürger seit dem Mauerbau sind die Länder Osteuropas, das wird im Westen oft vergessen. Hier beginnt ihr neues Selbstwertgefühl. Das zweite deutsche Wirtschaftswunder hat aber, ebensowenig wie das erste, vorwiegend politische Gründe. War die Masse der Westdeutschen bis vor wenigen Jahren nur eben gutwillig bereit, es auch einmal mit der Demokratie zu versuchen, so ist die Masse der Ostdeutschen abgeneigt, andere als ökonomische Perspektiven ernsthaft in Betracht zu ziehen. Dieser Staat, die DDR, ist noch immer nicht minder ungeliebt von der Masse seiner Bürger als vor 10 und 20 Jahren. Man hat sich nur nach dem Mauerbau, nach der CSSR-Invasion, und angesichts der sowjetischen Präsenz, mit dem Gedanken abfinden müssen, keine Alternative , zu dem ersten „Deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ zu haben.

Entsprechend reagieren die meisten auf die nun massierte Präsenz der Westdeutschen, diese freundliche Invasion des „kapitalistischen“ way of life, vor deren Konsequenzen die Herren in Pankow offenbar mehr zittern als im Grundvertrag vorgesehen ist. Der Verwandte oder Freund aus dem Westen wird in eine bürgerliche, von allen politischen Bazillen völlig freie Familienatmosphäre aufgenommen. Wenn er nicht von sich aus das Gespräch auf die Politik bringt, braucht er die ganze Besuchszeit über von seinen Gastgebern kein Wort davon zu hören. In diesem anderen Staat der Deutschen ist „Deutschland“ eine selbstverständliche Realität und die DDR nur ein Name. Heimatgefühl und gemeinsame Geschichte binden Gastgeber und Gast zu einer so selbstverständlichen Einheit zusammen, daß die Phraseologie der Funktionäre nicht einmal diskussionswürdig ist.

Allerdings erfährt der Gast auch folgendes Paradox: so ungeliebt die staatsoffizielle Ideologie ist, so stark prägt sie doch viele Urteile über „den Westen“, verkürzt und verfälscht die Perspektiven und nähert sich damit dem Zerrbild, das nicht nur die Offiziellen der DDR, sondern auch manche westdeutschen Vertreter der Massenmedien selbstmörderfroh von der Bundesrepublik Deutschland entwerfen. Wer ständig nicht nur durch den „schwarzen Kanal“ der DDR, sondern auch durch das westdeutsche Fernsehen oder die Lektüre von „Spiegel“ und „Stern“ nur von Bildungsnotstand, unsozialen Krankenhäusern, revanchistischen Landsmannschaften und vielen anderen Übeln mehr hört, freut sich schließlich gut deutsch darüber, eine „Obrigkeit“ zu haben, die ihm solche Denk-und Reformnötigungen erspart. Das Untertanenbedürfnis der Deutschen, im Westen von den linken Ultras als Anfang vom Ende der Menschenwürde gegeißelt, wird im Osten von eben denen, die eigentlich ihre ideologischen Brüder sein sollten, erfolgreich für ein „ruhiges Regiment“ einkalkuliert.

Trotzdem kann Pankow sich auf die gewundenen „Vielleichts“ des Grundvertrags, denen Bonn seinen Segen gab, berufen, wenn es die Grenzen nicht nur weiter dicht hält, sondern verschärfende Instruktionen an die Wacheinheiten herausgab. Alle Gesprächspartner in der DDR bestätigten es: 24 Stunden offener Grenze würden der DDR einen größeren Aderlaß, vor allem an Jugend und Intelligenz, bereiten, als vor 4V Jahren der CSSR. Der aber betrug bekanntlich 120.000 Flüchtlinge, gleichfalls vorwiegend Angehörige der Intelligenz. Das Ja zum Staat in der DDR dauert genauso lange, als es keine greifbare Alternative zu ihm gibt. Die wagemutigen Flüchtlinge, die oft genug nur noch ein Grab im Westen finden, sind nur die Spitze eines Eisbergs.

Die zweite innerdeutsche Mauer, die von allen Gesprächspartnern bestätigt wird, erweist sich darum mitten in der Euphorie erfolgreicher Verträge als zwingend: Hunderttausende von Bürgern müssen in der DDR, wie vor Jahren im kältesten Krieg, ihre Beziehungen zu westdeutschen Verwandten erneut einfrieren lassen. Das Ja zur DDR erweist sich nur dort als exklusiv, wo es erzwungen wird.

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