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Die zweite Konzertfestwoche

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Hindemith-Requiem

Am 5. Mai 1946 wurde in New York das neueste Werk des in die Neue Welt emigrierten Deutschen Paul Hindemith uraufgeführt (bald danach erklang es auch im Wiener Konzerthaus). Hindemith war auf die Elegie des großen amerikanischen Lyrikers Walt Whitman (1819 bis 1892) gestoßen, die dieser, erschüttert durch den gewaltsamen Tod Abraham Lincolns geschrieben hatte. Der Trauerkondukt mit der Leiche des von vielen so verehrten und geliebten Staatsmannes wanderte quer durch die Staaten, es war April, Flieder blühte an vielen Orten in jenem April 1865, daher der Originaltitel „Als Flieder jüngst mir im Garten blüht“. Das andere Symbol ist das des sinkenden Westgestims. Hindemith, der damals selbst viele tote oder verschollene Freunde zu beklagen hatte, übernahm den Haupttitel, dem er die Widmung „Für die, die wir lieben“ hinzufügte. Für sie schuf er ein tönendes Denkmal, das zugleich auch als Dank an das Gastland Amerika gedacht war. — Die 16 Abschnitte des schwierigen, expressionistischen und lyrischen Whitman-Textes hat er selbst übersetzt und aus ihnen ein zehnteiliges knapp einstündiges Oratorium geformt: für vierstimmigen gemischten Chor, zwei

Soli und Orchester (in mittlerer Besetzung) nebst Orgel. — Diese umfangreiche Partitur, ausdrucksvoll und zurückhaltend, bis auf wenige Tutti- und Fortissimo-Passagen, ist für den Stü des „mittleren“ Hinde-miths sehr charakteristisch, und wir geben gerne zu, daß uns die erste Aufführung in Wien einen stärkeren Eindruck gemacht hat, obwohl die Besetzung am vergangenen Samstag keinen Wunsch offenließ: Margarita Lilowas wohlklingender Mezzo, der noble, expressive Bariton E. G. Schramms, der gutstudierte ORF-Chor, das Rundfunkorchester unter der Leitung des sieht- und hörbar engagierten Dirigenten Milan Hor-vat vermittelten uns eine Wiederbegegnung (für viele: die erste Bekanntschaft) mit einem hörenswerten Werk, das vom Publikum minutenlang auf das lebhafteste bejubelt wurde.

Vorausgegangen waren eine etwa 10 Minuten dauernde Ouvertüre von Bruckner, ein „Gesellenstück“ aus dem Jahr 1863, das noch kaum charakteristische Züge des Meisters aufweist, danach der 30 Jahre später entstandene Psalm 150. Man bemerkte den Unterschied, obwohl der „echte“ Bruckner sich ganz nur in seinen Symphonien offenbart. Chor und Orchester überstrahlte mühelos die in Moskau geborene Sopranistin

Olga Basina, die 1972 mit dem 1. Preis beim Internationalen Wettbewerb der Gesellschaft der Musikfreunde ausgezeichnet worden ist, die aber trotzdem die Akustik des Großen Müsikvereinssaales ein wenig unterschätzte.

Die Amsterdamer unter Haitink

Höchstes interpretatorisches Niveau erreichten das Concertgebouw-orkest Amsterdam unter Bernard Haitink, zunächst mit Maklers immer wieder ergreifenden „Liedern eines fahrenden Gesellen“, in denen man Stimmkultur und Ausdruck des vorzüglichen Hermann Prey vorbehaltlos bewundern konnte, sodann eine ganz besonders klangschöne und imposante Wiedergabe von Bruckners Fünfter. — Wer keine Gelegenheit hatte, das Konzert im Großen Musikvereinssaal zu hören, konnte sich am vergangenen Sonntag zwischen 11 und 13 Uhr vor dem Radioapparat von der exemplarischen Wiedergabe zweier Meisterwerke durch Meisterinterpreten überzeugen. (Bei dieser Gelegenheit: Versäumen Sie nicht, sich auch „Aus Burg und Oper“ anzuhören. Da erfährt man immer etwas Interessantes!)

Meistertrio und Tonkünstler

Ganz anders, als man's erwartet hatte, ging es in dem von Heinz Wallberg dirigierten Konzert des Tonkünstlerorchesters zu. Die drei russischen Solisten Natalja Zertsa-lowa, Klavier, Igor Oistrach, Violine, und Michail Chomitzer, Cello, waren sicher gut aufeinander eingespielt

und blieben auch beim Konzert immer schön beisammen oder im Dialog, und auch an der Begleitung war nichts auszusetzen. Aber dieses Tripelkonzert von Beethoven ist und bleibt kein sehr gelungenes Werk. Zwar spürt man von den ersten Takten an die nächste Nähe der „Eroica“ und des „Fidelio“, aber auf eine fast mysteriöse Weise kommt in dem glücklicherweise nicht langen Stück jeder der drei Solisten — und auch das Orchester — zu kurz. Aber dann, nach der Pause, ging es lebhaft und munter zu: Bruckners Erste ist wirklich ein „keckes Beserl“, und wenn man sie mehrere Jahre nicht gehört hat, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Man bewundert nicht nur Bruckners Bescheidenheit bei soviel Kunstverstand (daß er zwei Vorgängerinnen dieses Prachtwerkes verleugnete und nur diese Symphonie als seine erste gelten ließ), sondern auch die bereits voll ausgeprägte Eigenart. Natürlich schaut da und dort ein Stückerl Wagner heraus — und daß dem Meister von St. Florian Rossini gar so gut gefallen hat (wie es das Scherzo bezeugt). Aber wie kenntnisreich und originell wird da die traditionelle Form behandelt, wie fliegen ihm die Einfälle zu, und wie schön ist das instrumentiert! Wir haben selten eines unserer Orchester mit soviel Verve und Freude am Musizieren erlebt, wie die Tonkünstler unter Wallberg. Es war ein richtiges Tonkünstlerfest, das vom Publikum lebhaft mitgefeiert wurde und die entsprechende lautstarke Anerkennung fand.

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