„Care“ und Karwoche: Zuwendung, Beziehung und Zeit als Maximen

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Es ist die Vorstellung, auf andere angewiesen zu sein, die vielen zuwider ist. Zumal sie dem Ideal der Unabhängigkeit entgegensteht. Warum „Care“ und Karwoche eng miteinander verflochten sind.

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Es ist die Vorstellung, auf andere angewiesen zu sein, die vielen zuwider ist. Zumal sie dem Ideal der Unabhängigkeit entgegensteht. Warum „Care“ und Karwoche eng miteinander verflochten sind.

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Die Vorsilbe „Kar“ steht wie eine Überschrift über der Woche vor dem Osterfest. Sie kommt vom althochdeutschen „kara“ – Klage, Trauer, Sorge–, das verwandt ist mit dem englischen „care“ – sorgen, fürsorglich sein, Sorgearbeit leisten. Auch im Deutschen zeigt sich diese Verwandtschaft: Wenn jemand Kummer hat, kümmern wir uns um ihn. Wir sorgen für Menschen, die Sorgen plagen. Klage und Trauer rufen in die Beziehung. Die Karwoche ist eine gute Zeit, Care in den Mittelpunkt zu rücken.

Aufräumen, putzen, einkaufen, kochen, trösten, erziehen, pflegen – diese Tätigkeiten scheinen kaum der Rede wert. Wenn sie in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit kommen, dann als Problem. Karwoche ist Care-Woche, heißt, hinschauen auf diese Arbeit, die großteils von Frauen geleistet wird. Weltweit verrichten Frauen drei Viertel der unbezahlten Sorgearbeit – über zwölf Milliarden Stunden täglich. In Österreich hängt sie zu zwei Drittel an Frauen. Drei Viertel der 950.000 pflegenden Angehörigen sind weiblich. Auch die bezahlte Care-Arbeit ist vorrangig Frauenarbeit. Zwei Drittel der Care-Arbeiter(innen) weltweit sind Frauen. In Österreichs Krippen und Kindergärten liegt der Männeranteil bei rund zwei Prozent. 86 Prozent der Pflege- und Betreuungspersonen sind weiblich. Care-Arbeit – ein Verteilungs- und Gleichstellungsproblem also? Auch. Aber nicht nur. Karwoche ist Care-Woche, heißt, genauer hinschauen. Warum erfährt Care-Arbeit wenig Anerkennung? Und wo ansetzen, um das zu ändern? Diese Fragen betreffen unser Weltverhältnis und Menschenbild.

Es gilt, die Unverfügbarkeit zu integrieren

Care berührt einen Aspekt in unserem Leben, den wir gerne wegschieben: Angewiesensein auf andere, auf ihre Hilfe und Unterstützung. Das läuft unserem Ideal der Unabhängigkeit zuwider. Zu Recht haben Unabhängigkeit und Selbstbestimmung einen hohen Stellenwert. Aber ein übersteigertes Autonomieverständnis führt in die Irre. Es führt dazu, dass wir Angewiesensein auf die Sorge anderer als einen bedauernswerten, ja unwürdigen Zustand betrachten. Ich will niemandem zur Last fallen – wie oft ist dieser Satz zu hören.

Was der Messias durchlebt, sagt uns, was zum Menschsein gehört: Verletzlichkeit, Endlichkeit, Hilfsbedürftigkeit.

Die Karwoche führt uns vor Augen: Jesus, der so viele Menschen geheilt, gelehrt und inspiriert hat, der Messias – hilflos am Kreuz. „Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen“, lästern die Leute. Was der Mensch gewordene Gott durchlebt, sagt uns, was zum Menschsein gehört: Verletzlichkeit, Endlichkeit, Hilfsbedürftigkeit, Angewiesensein. Das gilt es in unser Menschenbild zu integrieren. Und es gilt, die Unverfügbarkeit in unser Weltverhältnis zu integrieren. Auch das ist gegen den Trend, den der Soziologe Hartmut Rosa so analysiert: Die Moderne ist darauf ausgerichtet, „die Welt in allen Hinsichten berechenbar, beherrschbar, vorhersagbar, verfügbar zu machen“. Hand in Hand damit gehen Optimierungsdruck, Wachstum, Beschleunigung. Immer mehr, immer schneller, lautet die Devise.

Beschleunigung und Optimierungsdruck lasten auf der Care-Arbeit. Ob in Kindergarten oder Seniorenarbeit, in der Arbeit mit chronisch kranken Kindern oder Menschen mit Behinderungen – wenn ich mit Mitarbeiter(inne)n der Diakonie rede, höre ich: „Ich habe mich für diesen Beruf entschieden, weil ich Menschen dabei begleiten möchte, ein gutes Leben zu führen. Ich will da sein für sie. Ich will auf individuelle Bedürfnisse und Vorlieben eingehen. Das braucht Zeit.“ Zeit für Zuwendung und Beziehung. Zeit, um sich dem Tempo von Kindern oder Menschen mit Pflegebedarf anzupassen. Zeit ist die professionelle Anforderung an Sorge-Arbeit. Zeit, die es nicht gibt in einem System, das sich mehr an Vergütungsmodalitäten der öffentlichen Hand und betriebswirtschaftlichen Kriterien, an Standards und Dokumentationen orientiert als an den Menschen, die Sorge brauchen. Für Care-Arbeiter(innen) heißt das: Es bleibt ihnen zu wenig Raum, um das zu tun, was Care zu einer erfüllenden Arbeit macht. Sie müssen immer wieder hinter ihren eigenen Ansprüchen an gute Sorge zurückbleiben. Wertschätzung von Care-Arbeit heißt auch Anerkennung ihrer Eigenlogik – und dementsprechende Investitionen, nicht zuletzt in mehr Personal.

Soziale Investitionen sichern Arbeitsplätze

Ich höre Einwände: Sozialromantik. Zeit ist Geld. Wie soll das finanziert werden? Nun, Anerkennung der Care-Arbeit und entsprechende Bereitstellung von Ressourcen sind eine Frage des Realitätssinns. Care-Arbeit ist gesellschaftlich notwendig und hat ökonomischen Mehrwert. Würde die weltweit unbezahlt geleistete Sorge-Arbeit mit Mindestlohn bezahlt, entspräche das jährlich elf Billionen US-Dollar. In Österreich macht die unbezahlte Arbeit umgerechnet 105 Milliarden Euro im Jahr aus (etwa 30 Prozent des BIP). Soziale Investitionen schaffen krisensichere Jobs. In der Wirtschaftskrise 2008/09 ist die Beschäftigung etwa in der Autoindustrie und im Baugewerbe gesunken – im sozialen Sektor ist sie gestiegen, EU-weit um 16 Prozent. Und 70 Prozent der Ausgaben für die Pflege fließen via Steuern und Sozialversicherung wieder an die öffentliche Hand zurück.
Care ist das Schmiermittel, das dafür sorgt, dass die Räder unserer Wirtschaft und Gesellschaft laufen. Stellen wir uns vor, was passieren würde, wenn die vielen Frauen und zunehmend mehr Männer aufhören würden, zu putzen und zu kochen, Kinder zu versorgen und Menschen im Alter zu pflegen …

Die Autorin ist Direktorin der Diakonie Österreich und evangelische Pfarrerin.

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