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Caritas ist kein Gesprächsstoff

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Der Journalist sitzt dem Wiener Caritasdirektor, Prälat Doktor Leopold Ungar, gegenüber. Es ist Sonntag abend, der Caritassonntag, an dem viele tausende Kirchenbesucher ihren Obulus für die Zwecke der Caritas entrichtet haben. Kennen die Leute die Ziele und die Sorgen der Caritas? Auf den kleinen weißen Kuverts, die in der Kirche verteilt werden, steht immer etwas, aber natürlich nur Andeutungen, einige Zahlen und ein recht wortkarger Text. Es gehört schon etwas Phantasie und — eben — Liebe dazu, um sich hinter den Zahlen und den wenigen Worten die Wirklichkeit vorzustellen, die viel düsterer und zugleich heller, auf alle Fälle aber komplexer und viel schwerer überschaubar ist als eine statistische Erfassung einzelner Tätigkeitsbereiche. Über die Caritas läßt sich schwer reden, denn man kommt dabei unversehens in eine dem Thema doch völlig fremde Geschäftigkeit; man erliegt der bekannten Phraseologie der Vereinsmeier aller Welt oder einer Megalomanie, und man hantiert mit Zahlen und noch höheren Zahlen, mit den Rekorden und noch höheren Rekorden, wenn sie auch Rekorde der Nächstenliebe markieren sollten.

Die Initialzündung

Nein, die Caritas ist kein richtiger Gesprächsstoff. Und sie eignet sich auch nur schlecht für Propaganda, für die Zeitung, wenn man nicht völlig aus den Augen verlieren will, wovon man eigentlich spricht. Und daher hofft der Journalist, daß ihm

der Caritasdirektor gleich den fertigen Artikel mitbringt, den irgendwelche Fachkräfte zusammengestellt haben. Aber diese erwartete Hilfe kommt nicht. Und das folgende Gespräch kreist um viele Themen; die Leistungen der Caritas werden nur so nebenher und auf mehrfaches Drängen zugegeben. Nein, nicht aus Koketterie, aus falscher Bescheidenheit. Sondern weil der Befragte nur zu gut weiß, Wie problematisch jede isolierte Betrachtung einer Institution wie die Caritas ist, wenn man dabei nicht gleichzeitig „alles“ sieht oder zumindest sehen will: das Wesen der Kirche, den Menschen in seiner historischen, sozialen Bedingtheit, Gegenwart und Vergangenheit, die Malaise Europas, Ost und West, die Fragwürdigkeiten in der Entwicklung der Entwicklungsländer. Eine schwierige Materie. Und daher läßt sich am besten über Zufälligkeiten, über Vorkommnisse, die vielleicht nur Randgebiete oder benachbarte Themenkreise berühren, sprechen.

Der Caritasdirektor kam soeben aus dem Stephansdom, wo er am Nachmittag von der Kanzel über die Caritas gesprochen hat, wie sie in den Worten Christi erscheint und ihren wahren Sinn erhält. Jetzt sitzt er da im stillen Espresso hinter dem Dom und bestätigt dem fragenden Journalisten gerne, daß über die Geschichte der Caritas kaum nennenswerte Literatur auf-

aber auch Schwerpunkte

Denn so wird die Hilfe für andere, reichere Länder zur Prestigefrage. So hat Österreich etwa nach dem großen Erdbeben in Persien begonnen. Und der Beitrag der österreichischen Caritas wurde dort bereits durch Deutschland, Belgien und Luxemburg und den USA zusammen weit übertroffen. Die prinzipiell nie entscheidbare Frage: Soll man Schwerpunkte bilden, oder soll man überall, so gut es geht, etwas zumindest helfen, wird durch die Praxis gelöst: Schwerpunkte auch, selbstverständlich, aber sonst überall Initialzündung. Und das hat sich bisher gut bewährt.

Mit dem Suppentopf angefangen

Gibt aber Österreich wirklich nur wenig? Angesichts einer großen Katastrophe ist natürlich zunächst jede Spende zuwenig. Aber in Asien und Afrika erweist sich unsere Spende, eine Spende in harter Währung, als etwas ganz Gewaltiges; wie etwa 1947 ähnliche Dollarbeträge im damaligen Österreich Wunder gewirkt hätten.

ndbar wäre. Ja, er gibt zu, da ich er noch nicht dazugekomme t, über die Anfänge der Carita if dem Boden der Erzdiözese Mate al zu sammeln „Man müßt rälat Wagner fragen“, sagt er, „e

weiß sicher mehr.“ Eines steht fest: Die Caritas ist in der Not und durch die Not gewachsen; während des letzten Krieges gleichsam „illegal“, und seither immer mehr, ja in atemraubendem Tempo, mit der raschen Folge der Katastrophen und der wechselnden Schauplätze der größten Not geräde noch Schritt haltend. Es gab eigentlich nie ein „Inzwischen“, keine Zeit zum Ausrasten, zum Anlegen von Archiven, für die Pflege der „public relations“, der Dokumentation, wie dies heute sonst alle tun. Ja, für die Reklame blieb nie Zeit, geschweige denn Geld übrig.

Trotzdem bleibt die Tätigkeit der Caritas natürlich nicht verborgen, und sie erfüllt eine, auch international gesehen, bedeutende Funktion, indem sie zum Beispiel in verschiedenen Katastrophengebieten der Erde die „Initialzündung“ gibt.

Das bedeutet, daß die vielen Einsätze der Wiener Caritas keine lächerliche Verzettelung bedeuten, keine „Wichtigtuerei“, wie vielleicht manche liebe Leute das so anneh-' men, sondern den Anfang und den verstärkten Hilferuf: Seht her, die Not ist so groß, daß selbst wir Österreicher, die noch gestern selbst der Hilfe bedürftig waren, heute hier geben, was wir geben können. Das nennt man in der technischen Sprache Initialzündung.

Und in Österreich? Die Szenerie ist hier eine ganz andere. Seit dem großen Ungarnzug 1956 57 gibt es hier, Gott sei Dank, keinen Katastropheneinsatz mehr, aber dafür eine immer schwieriger werdende Kleinarbeit und den zähen, wirklich kalten Krieg mit den (eiskalten) Behörden. Wenn man die steigenden Wohnungspreise ansieht: Wieviel mehr kostet doch auch ein Altersheim heute als noch vor Jahren? Da hilft nur eines: Schulden machen! Aber die Altersheime werden trotzdem immer schäbiger. Und die Gemeinde gibt nur die nied-

rigen Verpflegsätze her und schaut ruhig zu, wie der Verputz abbröckelt. Der Stand der Altersheime der Wiener Caritas entspricht heute dem de? Jahres 1930. Jawohl: Österreich ist da ein unterept- wickeltes Land, und es ist kein erhebender Anblick, wie da die alten Wiener im ehemaligen Lager von Lanzendorf hausen, dessen Baracken nicht einmal instandgesetzt werden können. Die Gemeinde spart auch an den Klosterschwestern, denn ziviles

niegepersonai wurde selbstverständlich viel mehr kosten. Aber die Differenz gibt man nicht her.

Trotzdem blickt die Caritas nicht zurück und betrachtet die Dinge nicht mehr aus der Suppentopf-

Perspektive der ersten Nachkriegsjahre. Sie strebt heute ganze Lösungen an. Das Tätigkeitsfeld und wohl auch die Bilanzsumme sind seither stark angewachsen. Für das benötigte Personal gibt es eine Reihe von Schulen, so zum Beispiel auch schon ein Heilpadagogischeš Seminar, und in Salzburg wird jährlich eine Arbeitstagung für heilpädagogische Fragen veranstaltet. Statt fünf Heimen in den vierziger Jahren gibt es heute deren 20. Also lauter Erfolgsmeldungen? Nein, denn der Car tasdirektor erwähnt zum Beispiel, daß der Lebensmüdenbetreu-

ung der Erfolg bisher versagt blieb, und der Alkoholismus — beide Probleme hängen zusammen — ist im Wachsen begriffen.

Die helfenden Hände sind zahlreicher, wenn es sich um eine Arbeit weit weg, im Ausland, auf exotischem Gebiet handelt. Denn das ist viel interessanter Die Hilfe im nächstliegenden Fall, für den wirklichen Nächsten, ist nicht

gar so interessant. Noch weiß lange nicht ein jeder Katholik in Wien, daß er nur dann wirklich „praktiziert“, wenn er auch für seine Mitmenschen etwas tut; das hat zwar nicht die Kirche bestimmt, aber im merhin der Gründer der Kirche

Vielleicht ist es aber gut, hier die Hilfe der vielen namenlosen Spender zu erwähnen, und etwa auch

Phofc: Gröpel

den Fall der alten Wienerin, die jüngst, bevor sie in ein Altersheim zog, ihre Ersparnisse, 25.000 Schilling, den Leprakranken von Senegal widmete und auf diesem Wunsch beharrte, obwohl man ihr riet, sie sollte das Geld doch lieber für sich, für einen Kuraufenthalt, ausgeben. Andere kommen, die man für arme Bittsteller hält, und sie kramen hohe Geldbeträge hervor und geben sie für die Zwecke der Caritas her, und es gibt Medizinstudenten, die sich freiwillig für die Pflege der Leprakranken melden. In Afrika und in Persien sind heute solche Freiwillige aus Österreich tätig.

Solche Sachen sind kaum zu glauben, denn sie stehen ja nicht in den Wiener Journalen, und wahr ist nur, was in der Zeitung steht

Die Caritas patroniert und tyrannisiert niemanden, sie will nur helfen und mit den jeweiligen zuständigen Behörden friedlich und zweckmäßig Zusammenarbeiten. Das ist in Wien so, und so halten es auch die Caritasstellen der anderen Diözesen, deren Arbeit nicht zum Thema dieser Zeilen gehört. Auch kann man hier leider nicht auf die vielen Anregungen und Hinweise eingehen, die ein Gespräch mit Caritasdirektor Prälat Dr. Ungar eben mit sich bringt, so daß man beinahe wünschen möchte, ein Stenograph säße neben ihm und schriebe alles mit. Zum Beispiel, was er zum Thema „Unbewältigte Vergangenheit“ sagt oder zum Thema „Gesellschaftspolitik und Wohlfahrtsstaat“, zum Thema „Fremdarbeiter und farbige Studenten“, oder zur „Flüchtlingsfrage“, die es ja immer noch gibt, und es gibt auch in diesem Zusammenhang vieles in Österreich, wofür wir uns schämen und wogegen unsere frei gewählten Vertreter im Haus am Ring hart kämpfen sollten. Diese letztere Bemerkung stammt aber nicht mehr von Prälat Ungar, denn er will niemandem etwas vorschreiben. Er und seine Leute wollen — man kommt immer wieder darauf zurück — helfen. Und sie sind der Meinung, daß die Welt schon klein genug geworden ist, um eine Seele zu haben, und daß der Erdball schon kleir und überblickbar genug geworden ist, um in einem Manschen, der ein Österreicher, ja sogar ein Wiener sein mag, das Gefühl der Verantwortung aufkommen zu lassen. Verantwortung für die Kinder in Skoplje, für die Leprakranken in Senegal und auch für die Alten von Wien. Darauf kommt es an.

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