Christdemokraten: Herz statt Diaspora

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„Wo sind in Europa die Christdemokraten?“, fragen sich manche. Soll kein Vakuum in der Mitte entstehen, müssen sie sich heiklen Fragen stellen. Ein Gastkommentar von Thomas Köhler.

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„Wo sind in Europa die Christdemokraten?“, fragen sich manche. Soll kein Vakuum in der Mitte entstehen, müssen sie sich heiklen Fragen stellen. Ein Gastkommentar von Thomas Köhler.

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Unlängst legte die renommierte Journalistin Barbara Coudenhove-Calergi den Finger in eine Wunde, die nicht nur „Moria“ heißt, sondern auch andere brennende Probleme betrifft: Mit der prägnanten Frage, „wo die Christdemokraten sind“, erinnerte sie im Standard an die führende Rolle, welche die Volksparteien seit der EU-Gründung innehaben. Damit trifft sie nicht nur ins modisch Türkise, sondern auch ins traditionell Schwarze.

Denn überall in Europa ringen die Christdemokraten dies- und jenseits der Europäischen Volkspartei miteinander um Lösungen diverser „Krisen“. Das gilt in der Mitte des Kontinents für Österreich und Deutschland, wo Sebastian Kurz und Angela Merkel diametrale Positionen zur Migration einnehmen; im Osten gilt es für Polen, dessen sozialliberale Christdemokraten inner- und dessen nationalkonservative außerhalb der EVP stehen; und es gilt für Ungarn vice versa. Im Westen gilt es für die Republicains Frankreichs, deren Säkularität (Staat und Kirche als Partner) mehr und mehr mit dem Laizismus (Staat und Kirche als Gegner) in Konflikt gerät; oder auch für Spanien, dessen Populares in franquistisch-zentralistischer Tradition gegen die katalonisch-föderalistische Autonomie ag(it)ieren.

Historischer Kompromiss

Der historische Ursprung solcher „Diaspora“ an Positionen liegt aber im Süden des Kontinents: Das italienische Parteiensystem nach 1945 war legendär. Nicht nur, weil mit dem Partito Comunista – anders als im restlichen Westeuropa im Zeitraum des Kalten Krieges – eine kommunistische Partei bei freien und gleichen Wahlen regelmäßig fast gleich viele Stimmen auf sich vereinigte wie die christdemokratische, die Democrazia Cristiana; sondern auch, weil sich die beiden politischen Bewegungen in vielen Belangen (wenn auch nicht in der Theorie von Vollmacht, so doch in der Praxis von Wohlfahrt) einiger waren, als das Hardlinern in Washington oder Moskau recht war.

Worin all das in den 1970er Jahren gipfelte, war die Diskussion eines historischen Kompromisses: Sollten, ja konnten Christdemokraten und Kommunisten nicht nur kooperieren, sondern auch koalieren? Dass es dazu nicht kam, hatte zwei Gründe: Erstens entführten und ermordeten die linksextremen „Roten Brigaden“ unter nie geklärtem Einfluss der rechtsextremen irregulären Loge „Propaganda due“ den christdemokratischen Parteiführer Aldo Moro – und zwar nicht, weil er gegen, sondern weil er für den genannten Konsens eingetreten war (aus ihrer Sicht ein Verrat an der rechten linken Lehre); und zweitens verstarb in den 1980er Jahren vorzeitig dessen Pendant Enrico Berlinguer. Das historische Zeitfenster hatte sich damit geschlossen.

In den 1990er Jahren lösten sich infolge des Systembruchs 1989 zunächst die Kommunisten und sodann die Christdemokraten als Parteien zwar auf, wirkten als Politiker aber weiter: Als Post-Kommunisten schlossen Erstere Bündnisse diverser Bezeichnung in Richtung linker Mitte und führen nun, nach mehreren Jahren in der Opposition, als Demokraten wieder die Regierung an. Letztere aber, die Post-Christdemokraten, oszillierten gleich einer Diaspora democristiana aus der Mitte nach links wie nach rechts und sitzen in Rom oder Brüssel nach wie vor an den Hebeln der Macht: so David Sassoli als aktueller europäischer Parlamentspräsident (SPE bzw. S&D), Sergio Mattarella als parteiloser italienischer Republikspräsident oder Antonio Tajani als ehemaliger europäischer Parlamentspräsident (EVP). Womit sich der Bogen aus dem Gestern ins Heute schließt.

Die Europäische Volkspartei – immer schon, oder immer noch, die wichtigste Referenz der politischen Mitte mit rechtem und linkem Flügel auf europäischer Bühne – bezeichnet sich nicht inoffiziell, sondern offiziell als „christdemokratisch“. Verfolgen wir die Aussagen ihres Fraktionsvorsitzenden, Manfred Weber, dann ist sich seine Partei mehr denn je der Notwendigkeit bewusst, sich angesichts ihrer in Italien exemplarisch verdichteten Vergangenheit und ihrer sich gegenwärtig auf Europa erstreckenden Pluralität für die Zukunft neu auf- und einzustellen. Denn die populistische Zange von Links und Rechts greift auf nationaler und internationaler Ebene gerade das an, wofür die europäische Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß ihren Gründern De Gasperi, Adenauer und Schuman mehr als alle anderen Parteien steht: Supranationalität.

Von Migration bis zur Religion

Die heiklen Fragen der EVP lauten demgemäß in Zukunft: Wie verhält sie sich gegenüber den nationalkonservativen Christdemokraten innerhalb (Ungarn) wie außerhalb (Polen) ihrer Reihen, ohne dabei die sozialliberalen (etwa in Benelux) zu verlieren: inklusiv oder exklusiv? Welche Stellung nimmt sie in der Migrationsdebatte ein: kurz- oder langfristig? Welche Haltung wählt sie angesichts von Positionen ungeklärter autoritärer Vergangenheit (wie in Spanien): ignorant oder pointiert? Welche Rollen spielen in Krisen wie der heutigen Sinn und Halt stiftende Faktoren wie Religion und Glauben für sie: offensive oder defensive?

Ziemlich offen geben die EVP-Granden deshalb zu: Wenn die EVP sich diesen Fragen nicht bald stellt, drohen mittelfristig jene italienischen Verhältnisse, die zur „Diaspora“ führten! Wer aber – inner- wie außerhalb des Kontinents – würde in so einem Fall das entstandene Vakuum in der politischen Mitte zu füllen versuchen? Schon das Zweite Vatikanum, das gemäß Johannes XXIII. „die Fenster“ zur Welt nicht zu schließen, sondern zu „öffnen“ beabsichtigte, hatte in Gaudium et Spes weitsichtig appelliert: „Der Gang der Geschichte erfährt eine so rasche Beschleunigung, dass der Einzelne ihm kaum mehr zu folgen vermag. [...] Die Folge davon ist eine denkbar große Komplexität der Probleme, die wiederum nach neuen Synthesen ruft.“ Dazu braucht es freilich Christdemokraten mit Courage. Worin Coeur steckt, Herz.

Der Autor ist Geisteswissenschaftler und Co-Herausgeber des „Jahrbuchs für politische Beratung“ (Edition mezzogiorno).

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