Christdemokratie: Ein Stachel im Fleisch

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Während Italiens alter/neuer Staatspräsident an den Abglanz der „Democrazia Cristiana“ erinnert, wankt die Bewegung europaweit. Warum ihr Verschwinden verheerend wäre. Ein Gastkommentar.

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Während Italiens alter/neuer Staatspräsident an den Abglanz der „Democrazia Cristiana“ erinnert, wankt die Bewegung europaweit. Warum ihr Verschwinden verheerend wäre. Ein Gastkommentar.

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Für die Europäische Volkspartei (EVP) – die sich nicht inoffiziell, sondern offiziell als christ(lich-)demokratisch bezeichnet – herrscht Gegenwind: In Portugal und Spanien regieren Sozialisten, in Skandinavien und Deutschland Sozialdemokraten sowie in Frankreich Sozialliberale. Gehen wir vom Westen und Norden weiter in den Osten und Süden, sieht es für die EVP, wenngleich ideologisch anders gewichtet, nicht viel besser aus: In Polen und Ungarn herrschen Nationalkonservative und in Italien mit Ausnahme der „Demokraten“ Links- und Rechtspopulisten („Cinque Stelle“ und „Lega“). Die der Regierung unter Mario Draghi angehörende „Forza Italia“ Silvio Berlusconis gehört zwar der EVP an, ist aber – vollkommen anders als die ehemalige "Democrazia Cristiana" (DC) – eine Kleinpartei. Sie ist der Abklatsch ihres Anführers. An Glanz und Abglanz der DC erinnert einzig und allein der wiedergewählte Staatspräsident Sergio Mattarella, ein galantuomo per bene.

Europaweites Wanken

Dass Österreich und Rumänien sowie andere Staaten im Nord- und Südosten Europas von Mitgliedern der EVP dominiert werden, ist ein schwacher Trost, denn sie wanken. Die ÖVP ist ein Beispiel dafür. Am meisten Sorgen bereitet der EVP freilich die Krise ihres wichtigsten Mitglieds, der CDU. Seit der drastischen Niederlage bei den Wahlen und der folgenden Koalition aus Rot, Gelb und Grün („Ampel“) steht sie unter Schock. Was die Lage der CDU im historischen Vergleich noch schlimmer macht, ist der Umstand, dass sie weder über vierzig noch über dreißig Prozent an Wählerstimmen auf sich vereinigte, sondern auf unter 25 Prozent abstürzte. Die inner- und außerparteilichen Querelen, die dazu führten, sind bekannt und die Rolle, die Markus Söder dabei spielte, war jedenfalls keine eines „Kavaliers“.

Selbstreflexiv betreibt die deutsche Christdemokratie nun ein Scherbengericht, worin es keine Tabus geben kann oder soll. Dass ihr dabei von manchen „Experten“ vorgeschlagen wird, nicht nur Inhalte zu überdenken, sondern auch ihren Namen zu ändern, berührt freilich nicht nur ihre Substanz, sondern auch die der EVP und mit ihr die Wurzel der gesamten politischen Mitte Europas. Anders gesagt: Verlöre die CDU ihr „C“ und adaptierte in Konsequenz die EVP ihren oben zitierten ideologischen Zusatz, verbliebe eine Bewegung zwar mit Mittelmaß und Oberfläche, aber ohne Tiefgang und Höhenflug. Bildlich: An die Stelle eines vertikalen „Stachels“ im Fleisch, den das Christentum programmatisch – „Zur Freiheit sind wir berufen“ – in sich und aus sich für die Demokratie birgt, träte ein vertikaler „Pudding“ pragmatischer Beliebigkeit ohne Ecken und Kanten.

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