6567239-1950_03_04.jpg
Digital In Arbeit

Die Anklage gegen die Krankenkassen

Werbung
Werbung
Werbung

Die strengen Maßnahmen, welche von Seiten der Krankenkassen zur Stützung ihrer Wirtschaft ergriffen worden sind, namentlich die Leistungskürzungen, welche die Stillprämien für Mütter von 26 auf 12 Wochen sowie die Sterbegelder kürzen und ein Zehntel der Spitalskosten künftig dem Versicherten auferlegen, haben in der Bevölkerung Widerspruch, aber auch in der Ärzteschaft und, soweit sie Verabreichung und Berechnung von Medikamenten betreffen, auch von Seiten der Apotheker begründete Einwände hervorgerufen. Die heutige Bedeutung der Sozialversicherung macht die dabei aufgeworfenen Fragen zu Angelegenheiten erster Ordnung. Eine sachliche Diskussion darüber liegt im öffentlichen Interesse. Sie wurde durch eine kurze Kritik angeschnitten, welche „Die Furche“ in ihrer Nummer 1 veröffentlichte. Im nachstehenden sei das Wort einem Freunde des Blattes gegeben, der aus' ernster, sozialpolitischer Orientierung um Verstehen für die Lage und Haltung der Krankenkassen wirbt.

„Die österreichische Furche“

In der Neujahrenummer der „Furche“ wurden in dem Leitartikel von Dr. Franz Ritschel die Ursachen aufgezeigt, die zu einer Zerrüttung aller menschlichen Gemeinschaftseinrichtungen geführt haben, ob es nun Staaten, Familien, Parteien — oder Krankenkassen sind. Dr. Ritschel schreibt richtig, daß der dauernde Anruf der auf das primitive Ausleben gerichteten Instinkte durch die verschiedenen Methoden der Propaganda naturgemäß die egozentrischen Anlagen vertieft und die Regungen der Opferbereitschaft verdorben hat. Und daß weiter die Folgen dieser seit Jahrzehnten auf die Massen einstürmenden Suggestion ungeheuer sind.

Das Problem der Krankenkassen ist nur ein Teilproblem aus dieser großen Problematik des heutigen Lebens überhaupt und kann nur in großen Zusammenhängen richtig gesehen werden. Jedenfalls sind die Aufgaben der Krankenkassen deshalb ins Riesenhafte gewachsen, weil eben die technisierte Zivilisation, weil Kriege und Nachkriegszeiten die Völker weitestgehend pauperisiert und proletarisiert haben, weil der gewaltige und zur Zeit noch unüberschaubare Struktur-, Gestalt- und Gehakwandel des sozialen Lebens sich hier zuerst und sinnfällig auswirkt.

Die Krankenkassen haben die äußerst undankbare Aufgabe zu lösen, für die schweren und gesundheitlichen Schäden der Zivilisation und der zunehmenden Verstädterung überhaupt und der beiden Kriege und der Nachkriegshungerjahre im besonderen aufzukommen. Die Menschen von heute sind hineingewachsen in eine Welt, in der fast alles zugeteilt und zugewiesen wird: Kleidung, Nahrung, Wohnung, Lektüre, Bildung, Arbeit, soziale Stellung und gesellschaftliches Ansehen. Der Mensch ist also in allen wesentlichen Dingen „Empfänger“ geworden, und im Zuge dieser Entwicklung ist er natürlich auch in weitaus höherem Maße als früher zum „Empfänger“ von Leistungen der Krankenkassen geworden, so daß diese den gesteigerten Anforderungen der Versicherten kaum entsprechen können ganz abgesehen davon, daß der Kreis der durch die Sozialversicherung zu Betreuenden immer größer und . umfangreicher wird.

Mir sind die Fehler, die von den diversen Kassenleitungen gemacht werden, sehr gut bekannt, wenn man jedoch die Größe der zu lösenden Aufgabe mit der durchschnittlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit vergleicht, erfüllen im Grunde genommen diese Einrichtungen unter schwierigsten Umständen geradezu vorbildlich die ihnen übertragene Aufgabe, die Arbeitnehmer und ihre Angehörigen gegenüber den Fähr-lichkeiten und Zufälligkeiten des Lebens zu schützen und bei Ausfall der Arbeitskraft das Existenzminimum zu sichern. Die gemachten „Fehler“, soweit man sie unter den gegebenen Umständen als solche bezeichnen kann, sind einzuteilen in solche, die in der Natur des Menschen und der menschlichen Gruppenbildung überhaupt, und in solche, die im Wesen der Zeit liegen und vom Zeitgeist diktiert werden. Auch Krankenkassen stehen in der Zeit und sind beherrscht von den ihr innewohnenden Kräften und Ideen, ja sie zeigen als Barometer sofort jede Änderung der sozialen Struktur und der Mentalität an, lang ehe die Soziologen sie ahnen und erfassen. Manche Maßnahmen der Krankenkassen, die an sich oft nicht verstanden werden, sind nichts anderes als Reaktionen auf Einwirkungen zerstörender und zersetzender Art. Hier setzt nun — besonders in letzter Zeit — eine von Interessengruppen diktierte und von geringer Sachkenntnis getragene Kritik der Sozialversicherungsträger ein, die geradezu dazu auffordert, die sozialen Einrichtungen zu mißbrauchen und zu schädigen. Es gehört fast zum guten Ton, aus diesen Einrichtungen herauszuholen, was nur irgendwie möglich ist. Erstaunlich ist dabei, daß man beobachten kann, daß sich bei diesem „Herausholen“ politische, wirtschaftliche und geistige Gegner treffen. Diese engstirnige Kritik übersieht dabei auch zumeist, daß die Sozialversicherungsträger nicht allein nur von „Klassengegnern“ und Sozialisten geleitet werden, sondern daß auch namhafte Vertreter der Arbeitgeberseite auf diesem Gebiete tätig sind und daß vor allem insbesondere die Landwirtschaftskrankenka6sen in der Regel von tüchtigen Vertretern der Volkspartei und des katholischen Lebens geleitet werden. Kennzeichnend ist nun, daß auch die verantwortungsvollen Katholiken, die in .die Leitung von Krankenkassen berufen worden sind, in diesen im wesentlichen keine andere Haltung einnehmen und einnehmen können als die von Sozialisten beherrschten Krankenkassen. Dies beweist wohl am besten, wie abwegig die Stellungnahme der Kritik und die von ihr beeinflußte und verursachte Stellungnahme der Öffentlichkeit ist.

Es ist richtig, daß fast alle österreichischen Sozialversicherungsträger notleidend sind, die Krankenkassen wurden es erst in den letzten zwei Jahren. Außer den einleitend genannten allgemeinen Ursachen sind es vor allem die noch immer bestehende Unterversicherung und die weit über die Einnahmen-Steigerung hinausgehende Steigerung der Kosten der Sachleistungen der Kassen.

Bis zum Ende des Jahres 1945 waren 95 Prozent des gesamten Einkommens der Arbeitnehmer beitragspflichtig. Seit Neujahr .1947 sinkt dieser Anteil ständig, so daß heute oft nur mehr das halbe Einkommen, oder eventuell noch weniger, beitragspflichtig ist. Zwar wurde die oberste Beitragsgrundlage mehrmals hanaufgesetzt — zuletzt am 1. Juni 1949 auf S 1050.—, ebenso wurden die Beitragssätze im letzten Jahre durchschnittlich um 0,75 Prozent erhöht —, die Einkommen sind jedoch zumeist über dieses Ausmaß hinaus gestiegen. Bestenfalls stiegen die Einnahmen der Krankenkassen um 200 bis 300 Prozent, die von den Kasseh zu erbringenden Sachleistungen sind jedoch im Preise auf das Fünf-bis Zwanzigfache gestiegen. Ein Krankenhausverpflegstag kostete zum Beispiel 1938 S 3.— bis S 5.—, heute S 15— bis S 30.— und darüber, eine Brille S 3.14, heute S 35.— bis 300.—. Man könnte diese Aufzählung spaltenlang fortsetzen. Aber nicht nur die Preise sind gestiegen, sondern auch die Beanspruchung von ärztlichen, fachärwlichen, zahnärztlichen und demisti-schen Leistungen, von Krankenhauspflege, von Transporten, von Kur- und Erholungsaufenthalt; Früher brauchte eine Kasse Krankenhauspflege nur bis höchstens vier Wochen bezahlen, heute zumeist für 52 Wochen für Versicherte und 26 Wochen für Angehörige. (Dies bedeutet eine weitgehende Entlastung der Steuerzahler, da diese früher über die Fürsorgeämter die Krankenhauskosten über vier Wochen Aufenthaltsdauer zahlen mußten!) Die Zahl der Röntgenleistungen und Überführungen steigt ins Beängstigende, ganz abgesehen davon, daß eine Reihe von teuren, neuen Heilmitteln auf den Plan getreten sind, die ein katastrophales Anschwellen der Ausgaben für Medikamente zur Folge haben.

Dazu kommt noch als erschwerend dos allgemeine Absinken der Moral und der Ethik, sowohl bei Versicherten als auch bei einzelnen Vertragspartnern, wodurch verschärfte und in ihrer Gesamtwirkung sicher-Jidi ungerecht erscheinende Kontrollen notwendig werden. Es kam zum Beispiel yo, daß den Krankenkassen Leistungen verre'ch-net wurden, die niemals erbracht worden sind, daß Menschen große Beträge bezogen, auf die sie nie den mindesten Anspruch hatten usw. Man könnte eine interessante Liste von Beispielen anführen, die aufzeigen würden, was bei dem bestehenden Mangel an Verantwortungsgefühl und Ethik geschehen kann. Dazu kommt, daß sich die Zahl der Ärzte, Zahnärzte und Dentisten seit 1938 verdoppelt, ja oft verdreifacht hat. Die Intellektuellen setzen sich gegen die in der allgemeinen Entwicklung liegende Pauperisierung und Proletarisierung energisch zur Wehr und versuchen zumeist, für diese allgemeine und in allen Ländern und Kontinenten sichtbare Erscheinung in Österreich die Krankenkassen allein verantwortlich, zu machen.

Die Finanzen der Krankenkassen sind genau genommen aus denselben Gründen schlecht, aus denen die Finanzen des Staates nicht in Ordnung sind. Daß die Wiener Gebietskrankenkasse als eine der größten Kassen am meisten darunter zu leiden hat, ist verständlich, sie hat als notwendige Folge der Anhäufung von Menschen die angeführten Zersetzungserscheinungen konzentriert zu verzeichnen. Wenn nun die Leitung der Wiener Gebietskrankenkasse das tut, was die Presse seit Jahren von Staat und Gemeinschaften fordert, das heißt, wenn sie versucht, ihre Ausgaben mit den Einnahmen in Einklang zu bringen, und wenn sie dabei nicht vor unpopulären Maßnahmen zurückschreckt, so wäre sie daher meiner Meinung nadi für ihren Mut und für ihre von hoher Verantwortlichkeit getragene Entscheidung eher zu beloben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung