Die hohe Kunst, sich eine Meinung zu bilden
Gruppenzugehörigkeiten und (linke wie rechte) Identitätspolitiken prägen die Corona-Gesellschaft - und beschädigen eine vernünftige Einschätzung der Lage. Ein Alternativvorschlag nach Hannah Arendt.
Gruppenzugehörigkeiten und (linke wie rechte) Identitätspolitiken prägen die Corona-Gesellschaft - und beschädigen eine vernünftige Einschätzung der Lage. Ein Alternativvorschlag nach Hannah Arendt.
Die Verwerfungen zwischen Geimpften und Ungeimpften sind nicht vom Himmel gefallen. Laut Corona-Panel der Universität Wien finden sich unter den Impf-Skeptikern neben jüngeren Kohorten vor allem Personen mit geringem Einkommen, Politikferne, Nichtwähler und Nicht-Wahlberechtigte sowie Personen mit niedrigem Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen. Es sind vielfach Menschen, die sich schon seit längerem ökonomisch abgehängt oder medial und politisch nicht repräsentiert fühlen. So betrachtet, entladen sich derzeit Aggressionen, die schon länger gären. Damit sollen weder die Ignoranz gegenüber dem Gemeinwohl noch Spitalsblockaden oder antisemitische Verschwörungsmythen gerechtfertigt werden – und schon gar nicht die Hetze von FPÖ-Politiker(inne)n, die sich der Emotionen dieser inhomogenen Gruppe bedienen. Ihnen gegenüber ist klare Abgrenzung angesagt.
Riskante Rede von „Spaltung“
Die Rede von einer „Spaltung“ der Gesellschaft ist dennoch riskant. Sie kann Unentschlossene und Zögerliche zur Positionierung zwingen und in die Hände der Hetzer treiben. Überdies ist die Mehrheit der Österreicher geimpft und gemäßigt, nur leider sieht sie der Radikalisierung schon zu lange „erste Reihe fußfrei“ zu. Nicht zuletzt herrscht auch eine gewisse historische Amnesie. Warum sollten jene, die mit niedrigem Einkommen, Arbeitslosigkeit oder gesellschaftlich-kulturellem Ausschluss und medialer Verachtung konfrontiert sind, z.B. Politikern oder Managern vertrauen, wenn sie doch in den vergangenen Jahren erlebt haben, dass zu viele Politiker korrupt sind, Manager auch bei Versagen hohe Abfertigungen bekommen, wirtschaftliche Erfolge privatisiert, wirtschaftliches Versagen aber von der Gesellschaft bezahlt wird?
Auch wenn die Skandale seit der Finanzkrise 2008 nicht repräsentativ für „die“ Politik oder „die“ Wirtschaft sind: Sie reichen, um Vertrauen nachhaltig zu erschüttern. Der israelische Journalist Nadav Eyal sprach schon 2018 von einer weltweiten Revolte: einem aggressiven, plan- und ziellosen Aufstand jener, die sich abgehängt und ausgeschlossen fühlen. Die Pandemie wäre der Funke, der diese Revolte befeuert.
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