Die Zukunft der Kinder: Bildungsraub seit je

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Nicht erst durch die Corona-Pandemie sind die Zukunftschancen der Jungen in Gefahr geraten – sie sind es schon seit Langem. Was wäre zu tun? Ein Gastkommentar von Ernst Smole.

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Nicht erst durch die Corona-Pandemie sind die Zukunftschancen der Jungen in Gefahr geraten – sie sind es schon seit Langem. Was wäre zu tun? Ein Gastkommentar von Ernst Smole.

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Wir schreiben die 1990er Jahre. Im Schulsytem gibt es Kürzungen der musischen Fächer, die Wiener Philharmoniker beklagen Mängel beim Musikernachwuchs, Konzerthäuser den Publikumsschwund, die Disziplinarfälle im Musikunterricht häufen sich. Droht das Aus der Kulturnation? Wir – Vertreter der Wiener Philharmoniker, der Wiener Musikhochschule und der Musikschulen – deponieren unsere Sorgen bei Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP): Wir betonen die Bedeutung der Musik für den Charakter, dass sie Österreichs Seele ist, et cetera.

„Seht zu, dass der Musikunterricht seine miese Akzeptanz verliert! Dann reden wir weiter!“, sagt die Ministerin. „Meine Angst ist eher, dass das Lesen, Schreiben und Rechnen verlernt wird!“ Schließlich sei An­alphabetismus in einem schülerkopfbezogenen sehr teuren Bildungssystems undenkbar. Schon vor 30 Jahren hat das „Institut für Höhere Studien“ auf zunehmende Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen (LSR) hingewiesen: Dazu geführt hat eine für die Familie bequeme Reduktion der ungeliebten Hausübungen; oder die mehrtägige Unterbrechung des Unterrichts durch Projekte. Auch das Üben und Auswendiglernen – in optimaler Ausprägung ist es unverzichtbar – wurde pauschal als „hirnloses Pauken und Büffeln“ entsorgt. Die zur Sicherung des Könnens und Erkenntnisgewinns nötige „produktive Ruhe“ wurde indes durch ständige „Reformitis“, also dürftig vorbereitete und wirkungsbefreite Reformen, gestört. Skeptiker galten als Ewiggestrige – wer mehr „Ruhe“ forderte, als Faulpelz. Parallel dazu nahm aufgrund beginnenden Notendumpings die Häufigkeit guter Zensuren zu.

Jahrzehntelanges Systemversagen

Und heute? Laut Wirtschaftskammer Wien beherrschen 66 Prozent Lehrstellensucher das Lesen, Schreiben und Rechnen nicht berufstauglich – keine Folge von Corona, sondern des jahrzehntelangen Systemversagens. Und der Anteil der autochthonen Schüler unter den Leseschwächsten steigt. Auch die Universitäten beklagen eklatante Schwächen der Studierenden. „Sie tun sich mit dem Bruchrechnen schwer“ und „sie erfassen den Zahlenraum bis 100 nicht mehr“ lauten zwei öffentlich gemachte Befunde. Überraschung? Nein! Der Bildungsbericht 2012 des BIFIE hat auf zwölf Prozent Leseschwache in der Unterstufe der AHS hingewiesen. Und der Bericht von 2015 macht deutlich, dass unser Bürokratiemoloch namens „Schulföderalismus“ eigentlich für 66 (!) Millionen Einwohner dimensioniert ist. Wo landet denn das Geld? Wirklich in den Kindergärten und Schulen? Und: Warum reagiert niemand auf diese laufend von Ministerien, Sozialpartnern und Medien publizierten Fakten?

Keine Frage: Corona ist für die Bildung der Jungen verheerend. Doch die eigentliche Katastrophe ist der jahrzehntelange „ganz normale Bildungsraub per System“, er ist ein Verbrechen an den Kindern, weil ihnen Lebens­ und Zukunftschancen verbaut werden.Schuld sind keine einzelnen Personen, sondern die Umstände: Denn chronische Entwicklungen werden oft nicht wahrgenommen. „Alle Schulverantwortlichen seit 1750 haben ihre Ehrengräber zu Recht , denn sie wollten für die Schule das Beste!“, sagen Bildungshistoriker. Das Nichtwahrnehmen bedenklicher Entwicklungen droht umso stärker, je schnelllebiger die Politik ist, je öfter das ministerielle Personal wechselt. Seit 2016 gab es nicht weniger als vier Ministerwechsel im Bildungsressort. Aus früher vielgescholtenen „Sesselklebern“ wurden tendenziell eher „Queraussteiger“.

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