Fall Kellermayr: Es geht um die Ursachen, nicht nur um Symptome

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Seit dem Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr wird zu Recht über „Hass im Netz“ diskutiert. Nötig ist freilich auch eine weitergehende Debatte über die Gründe für Suizidalität. Ein Gastkommentar.

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Seit dem Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr wird zu Recht über „Hass im Netz“ diskutiert. Nötig ist freilich auch eine weitergehende Debatte über die Gründe für Suizidalität. Ein Gastkommentar.

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Der Leitartikel der letztwöchigen FURCHE hat die politische Dimension des schrecklichen Suizids von Lisa-Maria Kellermayr beleuchtet. Dieser Tod gebe „dem Phänomen ,Hass im Netz‘ ein Gesicht“ und offenbare „das systemische Versagen im Umgang mit digitalem Terror“, hieß es dort.

Die Kommunikation in diesen (sozialen) Medien mag widerlich sein. Und man versteht wirklich alle, die diesen schrecklichen Tod zum Anlass nehmen, sich aus Twitter und Co einfach zurückzuziehen und den eigenen Account zu löschen. Vielleicht aber gelingt es in den nächsten Monaten auch – ausgehend von diesem Diskurs über die Verantwortung der Polizei, der Politik oder auch der Twitter- und Telegram-Community –, weitergehende Fragen zu stellen, etwa: Warum fühlen sich in unserem Land derart viele Menschen überhaupt psychisch belastet, so wenig wertgeschätzt und alleingelassen? Denn die Gründe für Suizide oder von Suizidversuchen, wie auch jenem von Hans-Jörg Jenewein, und ganz allgemein für die Zunahme von psychischen Problemen in unserer Gesellschaft reichen doch viel tiefer.

Tatsächlich zeigt das Gesundheitssystem in Sachen „Mental Health“ große Mankos. Beschwerden physischer Art werden umgehend und kostendeckend behandelt; bei Problemen psychischer Art muss man hingegen auf Therapieplätze oft monatelang warten – und hat zudem gar nicht selten einen beträchtlichen Selbstbehalt zu leisten. Das allein beschreibt schon die unterschiedliche Wertschätzung der Mehrheitsgesellschaft: Ein gebrochenes Bein ist irgendwie cool, wird man gemobbt, dann ist man ein Verlierer, ein Loser.

Wir brauchen „Mental Health Literacy“

Wie sollen Menschen aber auch Selbstwertgefühl und psychische Stabilität gewinnen, wenn sie in einem Bildungssystem aufwachsen, in dem man sich mit den eigenen Schwächen beschäftigen muss, statt dass die Talente gefördert würden? Oder wenn jene belohnt werden, die vorgefertigte Antworten auswendig aufsagen, dagegen jene, die kritische Fragen stellen, viel zu oft als Störenfriede abgekanzelt werden? Umso wichtiger wäre es, die Sichtbarkeit von Mental Health zu erhöhen, indem man es etwa in den Lehrplänen und im Schulalltag implementiert. So wie das alljährliche Sportschulfest braucht es jährliche „Tage der psychischen Gesundheit“. Damit sich Themen wie Mobbing, Internetabhängigkeit, Depressionen, Ängste oder Suizidalität eben gar nicht erst verfestigen.

Denn gerade junge Menschen fühlen sich alleingelassen und unverstanden. 2014 waren 20 Prozent der Schüler(innen) und Lehrlinge von psychischen Problemen betroffen, mittlerweile sind es laut Studien der Medizinischen Universität Wien und der Donauuniversität mehr als 50 Prozent. Wir sprechen also von einem gesamtgesellschaftlichen Problem. „Digital Natives“ sind dabei geprägt von den Kommunikationsplattformen der Gegenwart. Praktisch jedes von Kindern und Jugendlichen veröffentlichte Selbstporträt ist bearbeitet, folgt den Körperbildern der „Schönen und Reichen“ des Mehrheitsgeschmacks. Phänomene wie „Body Positivity“ sind hingegen noch immer ein Minderheitenprogramm einer selbstreferenziellen Elite.

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