Gesundheitsministerium: Zwischen Daten-Blindflug und Lobbyisten

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Mit dem langjährigen grünen Vorarlberger Landesrat Johannes Rauch kämpft nun der dritte Gesundheitsminister gegen die Pandemie. Warum es von ihm entschlossenes Handeln braucht. Ein Gastkommentar.

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Mit dem langjährigen grünen Vorarlberger Landesrat Johannes Rauch kämpft nun der dritte Gesundheitsminister gegen die Pandemie. Warum es von ihm entschlossenes Handeln braucht. Ein Gastkommentar.

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Bisweilen sind auch kleine Baustellen ein Hinweis auf den Renovierungsbedarf des gesamten Gebäudes. Diese Woche haben meine Büro-Mitarbeiter(innen) im Sozialministerium angerufen, wir wollten wissen, wie viele Meldungen wegen vermuteter Impfschäden rund um die Corona-Schutzimpfung eingegangen wären. Man führe dazu keine Statistik, wurde uns beschieden, man möge im BASG (Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen, Anm.) anrufen. Dort wurden wir an die AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) weiterverwiesen. Diese bestätigte, dass die Eingaben hierorts gesammelt würden. Wie viele es nun wären, könne man aber nicht sagen, denn man hätte nur eine Papierablage (!) und niemand hätte Zeit, im Ordner nachzuzählen. Da aber die Landesstelle Kärnten das Impfschadengesetz vollziehen würde, wüsste man sicherlich dort Bescheid. Mitnichten, in Kärnten wurde uns geraten, im Sozialministerium nachzufragen...

Spitäler liefern keine Daten

Jetzt kann man natürlich einwenden, dieses Wissen wäre angesichts der Herkulesaufgaben des Großressorts nicht von besonderer Relevanz. Leider hat man aber auch auf dringlichere Fragen keine Antwort. So wird seit Monaten gerätselt, wie viele Kinder aktuell an Corona leiden. Abgesehen von Daten der Statistik Austria gibt es dazu weder Zahlen aus den Ordinationen, noch aus den Kinderabteilungen der Spitäler. Man würde gerne zeitnah berichten, sagt der Grazer Infektiologe Volker Strenger, der die Daten sammeln soll, doch die Krankenhäuser würden nicht verlässlich liefern.

Wie konnte es soweit kommen? Kann es wirklich sein, dass der Gesundheitsminister völlig im Blindflug wichtige Entscheidungen in der Corona-Strategie treffen muss? Ist es tatsächlich noch akzeptabel, dass wir in unserem weit verzweigten Gesundheitswesen zwar wissen, wer, wann und wie behandelt, aber das Warum im Dunkel liegt? Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind in ihrer Arbeit zu keiner Diagnosekodierung verpflichtet. Die würde man aber brauchen, um die Krankheitslast der Bevölkerung zu analysieren und die Versorgungsstrukturen zu planen.

Es fehlt uns eine gut aufgestellte Einrichtung zur Krisenüberwachung. Die AGES konnte dem nicht gerecht werden.

Unter der schwarz-blauen Bundesregierung wurde das ohnehin durchsetzungsschwache Gesundheitsministerium weiter zerschlagen. Neben anderen Fehlentscheidungen löste Beate Hartinger-Klein die Generaldirektion für öffentliche Gesundheit auf. Beim Hereinbrechen der Pandemie rächte sich diese Kompetenzvernichtung bitter, denn der grüne Gesundheitsminister, Rudolf Anschober, musste in der härtesten Gesundheitskrise seit Jahrzehnten auch noch die oberste Seuchenbekämpfung wieder arbeitsfähig machen. Länder und Standesvertreter konnten im Ressortchef leicht den Schuldigen für Chaos und Widersprüche ausfindig machen. Dass eine Reihe von Stakeholdern in erster Linie die eigenen Interessen durchdrücken und Vorgaben des Ministers nicht akzeptieren wollte, blieb gut verborgen.

Was also wäre zu tun, damit Johannes Rauch, nach Anschober und dessen Nachfolger, Wolfgang Mückstein, dritter Gesundheitsminister in Pandemiezeiten, seine Entscheidungen wissensbasiert und wirksam treffen kann? Es fehlt uns nach wie vor eine gut aufgestellte Einrichtung zur Krisenüberwachung und -prävention. Das Robert Koch Institut in Deutschland zeigt, wie das geht. Die AGES konnte diesem Auftrag in der Vergangenheit nicht gerecht werden. Was wird dort neben den Meldungen von möglichen Impfschäden noch alles auf Papier und in Leitz-Ordnern dokumentiert? Keiner mag es so genau wissen. Außerdem: Kann es der neue Gesundheitsminister tatsächlich zulassen, dass eine Vertreterin der Pharmaindustrie dort die neue Chefin wird? Will man wirklich riskieren, dass die Schwurbler und Leugner, von denen nicht wenige das Gesundheitssystem ins Wanken bringen wollen, ihre Verschwörungsmythen weiter mit Geraune über die Allmacht der Pharmalobby aufladen können? Hat Österreich nicht dringend Bedarf an strikt unabhängiger Aufsicht des Medizinmarktes und wirkungsvoller Gesundheitsrisikoabwehr?

Wir sind immer noch im Loop der Corona-Wellen. Keiner kann sagen, wann es wirklich vorbei sein wird. Sicher aber ist, dass wir zusätzliche Versorgungsstrukturen brauchen werden. Für Akuterkrankte in den Spitälern, für Rehabilitation und vor allem für die Versorgung von Long Covid-Kranken. Und sollte es dem Minister nicht gelingen, die Pflegereform in Gang zu setzen, droht uns – verschärft durch die Corona-Belastung – ein veritabler Notstand.

Unverantwortlicher „Freedom Day“

Heute und hier sind vom neuen Gesundheitsminister klare Antworten und entschlossenes Handeln gefragt: Etwa für die Schattenfamilien, die nun nicht mehr wissen, wie sie Vulnerable, die sich keinesfalls infizieren dürfen, schützen können. Sie sind durch das unverantwortliche Aufkündigen aller Schutzmaßnahmen in die Ecke gedrängt worden. Ehrliche Antwort verdienen auch jene, die von „milden“ Worten über die bevorstehende Harmlosigkeit des Virus in trügerischer Sicherheit gewiegt werden. Auch die Lobbys aus Wirtschaft und Tourismus, die „Alles auf Öffnung“ sagen, wenn sie in Wirklichkeit „Alles auf Durchseuchung“ meinen, sollten wissen, dass der Gesundheitsminister in erster Linie dem gesundheitlichen Wohl aller Menschen verpflichtet ist. Diesen ist die vielleicht unangenehme Wahrheit über das Fortdauern der Virusgefahr sicher lieber als das unbelegte Gesundbeten des Risikos.

Die Autorin ist Pflege-, Patientinnen- und Patientenanwältin der Stadt Wien.

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