Identität unter Druck

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Nicht „der Islam“, sondern die Christen selbst seien verantwortlich für die Schwächung ihres Glaubens, meinte Regina Polak an dieser Stelle. Eine Replik bzw. Ergänzung von Michael Prüller.

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Nicht „der Islam“, sondern die Christen selbst seien verantwortlich für die Schwächung ihres Glaubens, meinte Regina Polak an dieser Stelle. Eine Replik bzw. Ergänzung von Michael Prüller.

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Bedroht der Islam unsere christliche Kultur? Als Sprecher einer katholischen Diözese werde ich häufig mit dieser Sorge konfrontiert. Und manche fühlen sich da von den kirchlichen Amtsträgern, denen sie mehr Empathie für Flüchtlinge als für verfolgte Christen unterstellen, im Stich gelassen. „Unser christliches Europa“ scheint ihnen kirchlicherseits preisgegeben.

In der letzten FURCHE hat die Wiener Religionssoziologin Regina Polak diese Sorge um eine durch „den“ Islam bedrohte „christliche“ Kultur grosso modo zurückgewiesen (nachzulesen hier, Anm.). Es gebe unbestreitbar extremistische Moslems, aber die Entchristlichung Europas sei hausgemacht, sei „das ureigenste, selbst zu verantwortende Problem der christlichen Kirchen“. Polak führt dazu an, dass Umfragen schon lange vor der verstärkten Zuwanderung eine Erosion christlicher Glaubenssätze in der Bevölkerung aufzeigen.

Das stimmt. Der Prozess der Marginalisierung Gottes in der europäischen Kultur, der spätestens mit der industriellen Revolution eingesetzt hat, war schon vor hundert Jahren weitgehend abgeschlossen. Man kann das nicht dem Islam in die Schuhe schieben. Aber das greift zu kurz. Denn im Narrativ der vom Islam bedrohten christlichen Kultur hat das „christlich“ ja nur sehr wenig mit Christus, dem Glauben oder der Kirche zu tun. In einer IMASUmfrage von 2016 haben 76 Prozent dem Satz zugestimmt: „Österreich ist ein christliches Land und sollte es auch bleiben.“ Bei derselben Umfrage sagten aber auch 72 Prozent über sich selbst, dass sie die Kirche nicht beachten, nicht brauchen oder rundweg ablehnen.

Ihnen geht es also weniger um die Trinität als um Identität. „Christlich“ wird zur Chiffre für „unsere“ westliche Lebensart. Dazu zählen Dinge, die unwidersprochen aus christlicher Wurzel stammen, wie etwa die gleiche Würde aller Menschen oder das Fehlen von Kleidungsvorschriften. Dazu zählen aber auch Haltungen, die viele als der Kirche abgerungen betrachten, wie die Gleichstellung von Mann und Frau (die schon gut argumentierbar dem Christentum zugerechnet werden kann, aber das ist eine andere Geschichte), die Trennung von Staat und Kirche und die religiöse Toleranz. Dazu kommen etwa der Gewaltverzicht in der Konfliktlösung und der demokratische Willensbildungsprozess. Wohl auch der Schweinsbraten bei einem guten Glas Wein.

Diese Art von „christlicher“ Kultur ist durchaus lebendig und keineswegs bereits selbstverschuldet sturmreif geschossen. Und ein Blick in die islamische Welt macht deutlich, warum viele Menschen als Gefährder ihrer Lebensart nicht „die Ausländer“ oder „die Nichteuropäer“ ausmachen, sondern „den Islam“: In allen Kriterien, die uns im heutigen Europa lieb und wert geworden sind, sind islamische Länder weit abgeschlagen. In nicht wenigen von ihnen ist der Westen – und was man hier wie dort eine „christliche Kultur“ nennt – zum Feind erklärt. Man kann nun darüber streiten, ob der scharfe Kontrast dieser Länder zur europäischen Kultur in der Theologie des Islam grundgelegt ist, oder ob er aus hinter den Islam zurückreichenden kulturellen Traditionen kommt – oder ob es sich bloß um eine Vielzahl von Einzelfällen handelt: die Optik ist problematisch.

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