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Lohngerechtigkeit, Mutterschutz und Volksgesundheit

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Jeder wirkungsvolle Familienschutz muß von dem Grundsatz des gerechten Lohnes und seiner Erfüllung ausgehen. Nach den eindeutigen Definitionen der berufensten und höchsten Autorität ist darunter zu verstehen ein Lohn für jede menschliche Berufsarbeit welcher Art immer, der dem vollbeschäftigten erwachsenen Menschen nicht etwa bloß das Existenzminimum für eine Person gewährleistet, sondern ein menschenwürdiges Auskommen im Rahmen seines Standes für sich und für seine Familie von Durchschnittsgröße, das heißt nach derzeitigen europäischen Verhältnissen für eine Familie von vier Kopfes. Unter dieser Voraussetzung werden dann Familien bei naturgemäßem und zugleich einwandfrei hygienischem Eheleben auch kinderreich sein, ohne der unabwendbaren Gefahr sozialer Deklassierung ausgesetzt zu sein; sie bedürften zugleich keiner generellen „Familienfürsorg e“, vielmehr würde eine solche weitgehend überflüssig und könnte sich lediglich auf den Kreis der Fürsorge-bedürftigen beschränken, der weitestgehend eingeengt werden könnte.

Welche wohltätigen Wirkungen sich aus einer solchen Ordnung für die Sozialversicherung und damit für die gesamte soziale Hygiene ergeben könnten, sei nur angedeutet. Die gesamte Sozialversicherung könnte von dem bis heute — von ihrem noch nicht überwundenen kapitalistisch-militaristischen Ursprünge in Deutschland her — ihr noch an haftenden Konstruktionsfehlern und dem damit verbundenen, Ärzte und Patienten gleich schädigenden und die wohltätigen sozialen Wirkungen empfindlich einschränkenden Pauperismus befreit werden und der Gedanke einer wirklich freien Ärztewahl, die ohne Ausnahme allen zugute käme, auf einer allen Beteiligten gerecht werdenden Ordnung durchgeführt werden. Wer jemals mit Krankenkassen und Fürsorge, insbesondere im Hinblick auf die bisherige Unzulänglichkeit der Familienver-skherung und Familienfürsorge, zu tun gehabt und unter den Unzulänglichkeiten gelitten hat, die“ sich beim gegenwärtigen System zwangsläufig aus der Nichtbeachtung des Grundsatzes der bloßen Beihilfe ergeben — der wird ermessen, von welch wohltätiger Tragweite eine durchgreifende Reform wäre und wie viele bis jetzt unlösbar scheinende Probleme der Sozialhygiene mit einem Schlage ihre Lösung finden könnten.

Ein Gebiet, auf dem die angedeutete soziale Reform sich wohltätig auswirken würde — sowohl in gesundheitlicher wie in sittlicher Beziehung — betrifft die Frühehe. Wir geben uns keineswegs der Illusion hin, daß Frühehe unter allen Umständen die unterschiedslos zu empfehlende Lösung der Probleme der Sexualhygiene und der Sexualethik wäre. Nicht alle Menschen sind ihrer Natur nach gleich; es gibt spätreifende Naturen; es gibt auch Sonderfälle, die im Hinblick auf besondere Umstände oder Aufgaben das Opfer einer gewissen Zurückstellung der Eheschließung ratsam machen. Aber grundsätzlich muß allen erwachsenen Menschen das Recht und die Möglichkeit z*ur frühen Eheschließung gewahrt bleiben.

Viel könnte damit für die Gesundheit, für die Freihaltung von venerischen Infektionen, schließlich für die sittliche Sanierung der, Ehe und Familie, und damit für die Menschenwürde und insbesondere auch für die Frauenwürde gewonnen werden. Es bedarf wohl keines Wortes, daß wir damit nicht eine Frühehe meinen ohne ausreichende Sicherung der materiellen Existenz, die von vornherein den Keim der Zerrüttung in sich trüge. Aber ganz von selbst würde es sich ergeben, daß in jeder Anstellung, in jedem Berufe, welcher Art immer, die Möglichkeit zur Eheschließung eben gewährleistet wäre. In manchen Berufen müßte damit vielleicht “ auch eine Vermehrung der Stellen und eine Verminderung der bisher geforderten Arbeitsleistung verbunden sein.' Dies wäre besonders begrüßenswert auch im Hinblick auf die heute noch sehr prekäre Lage der jungen Ärzte in Krankenhäusern und Kliniken, der jun'gen Lehrer und zahlreicher anderer Berufe, in denen die äußeren Verhältnisse eine Frühehe derzeit noch unmöglich machen — oder wenn überhaupt, so nur unter Verzicht auf die wissenschaftliche Laufbahn. Vom Standpunkte der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Hygiene wäre es begrüßenswert, wenn die auf diesem Gebiete bisher bestehenden Mißstände beseitigt würden.

Gleichwie die grundsätzliche Möglichkeit der Frühehe eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten darstellen kann, so sehen wir sogleich weitere günstige sozialhygienische Auswirkungen. Mit einer Verringerung sowohl der venerischen Infektionen, wie des Abortus, mit Gegenstandsloswerden bisheriger stets schädlicher Antikonzeptionsmethoden fiele eine der verhängnisvollsten und verbreitetsten gesundheitlichen Auswirkungen des abusus sexualis weitgehend fort, die sekundäre Sterilität. Es bedürfte somit keiner eigenen A nti-sterilitätspropaganda; es bedürfte nicht der Empfehlung unnatürlicher und hygienisch fragwürdiger Methoden der künstlichen Befruchtung, womöglich unter Heranziehung ehefremder „Spender“, einer Situation, gleich untragbar vom biologischen wie vom sozialen und rechtlichen und vom sitt-lidien Gesichtspunkte. Ganz von selbst, in natürlichem Wachstum, ohne irgendwelche äußere Pression und Organisation, sondern von innen heraus würde die Familie sich gesund entfalten; sie würde wirtschaftlich prosperieren und wieder durch gesteigerte Konsumkraft auch zum Prosperieren der Wirtschaft beitragen.

Damit würde sich von selbst noch eine weitere günstige sozialhygienische Wirkung in der Richtung einer heute so* notwendigen psychischen Hygiene ergeben. Wir wissen durch die Forschungen der Psychoanalyse heute nur allzu gut, welche verhängnisvolle Rolle dassexuelle Trauma — vor allem jeder abusus sexualis bei der Entstehung der Neurosen spielt. Die Neurosen sind zur dominierenden Massenerscheinung geworden. Die sozialen“ und wirfschaftlichen Auswirkungen dieser Massenverbreitung lassen sich noch gar nicht in ihrer vollen Tragweite übersehen. Aus der Fülle der hier aufschießenden Probleme sei hier rfur das des einzigen Kindes und des „umstrittenen“ Kindes, der zunehmenden Schwererziehbarkeit, der moralischen Fürsorgebedürftigkeit und Kriminalität der Jugend genannt.

Schon diese Andeutungen lassen die großen Zusammenhänge erkennen, eine Richtung, in der allein die grundlegende soziale und ökonomische Sanierung der Familie sich sozialhygienisch auszuwirken vermag.

Es sei hier noch auf einige Maßnahmen im Sinne des Familienschutzes verwiesen, die keineswegs von geringer Bedeutung sind.

Da ist an erster Stelle die Aufgabe einer richtig orientierten Eheberatung. Wie die gesamte Sozialhygiene, muß auch die Eheberatung in ihrer Zielsetzung umfassend sein. Welch segensreiche sozialhygienische Auswirkungen von einer richtig orientierten Eheberatung ausgehen! Gerade die Ausdehnung der Beratung von einer nur eugenischen vorehelichen Beratung auf die Aufgaben einer innerehelichen Beratung gewährt Rat und Hilfe in allen Eheschwierigkeiten, sowohl physischer wie psychischer Art und macht die Eheberatung'erst zu einer Einrichtung wahrer Sozialhygiene. Im Hinblick auf die zunehmende Ehezerrüttung ergeben sich hier auch wichtige Verbindungen zur Seelsorge, insbesondere auch zu den kanonischen Ehegerichten: Beziehungen, die sämtlich beherrscht sein müssen vom Grundsatze der Ehebegünstigung.

Was von der “Eheberatung gilt, gilt fast noch mehr von der Schwangerenfürsorge: Sie nimmt eine Schlüsselstellung für das gesamte System der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge ein. Besonders auch im Hinblick auf gesundheitliche wie soziale Komplikationen der Schwangerschaft kann diese Fürsorge ganz Wesentliches zur Erhaltung des Lebens, zur Erhaltung der Gesundheit von Mutter und Kind beitragen. Es bleibe nicht unerwähnt, daß in aller Stille eine Schwangerenberatung beim K a-ritasverband es sich besonders zur Aufgabe gesetzt hat, die sozialen Schwierigkeiten, die sich der Erhaltung einer unter besonderen Notumständen zustandegekommenen Schwangerschaft entgegenstellen, wirksam zu überwinden und die Unterbringung der Kinder in guten Händen zu gewährleisten. Diese Institution steht erst in den Anfängen einer verheißungsvollen Entwicklung. Für ihre Ausgestaltung sehr wertvoll wäre eine Erneuerung des Mutterschutzwerkes und des Josefs-Werkes für Familienfürsorge; beide Einrichtungen können nicht erwähnt werden ohne ein ehrenvolles Gedenken an P. Peter Schmitz SVD und Frau Minna Wolfring.

Hingedeutet sei hier auf die aussichtsreichen Möglichkeiten einer engen Zusammenarbeit zwischen Schwangerenfürsorge und Tuberkulosenfürsorge, wie sie seinerzeit schon erfolgreich angebahnt war.

Nach wie vor bleibt auch die Forderung nach dem Ausbau einer großzügigen Mutterschaftsfürsorge bestehen, wie sie besonders der verdienstvolle Begründer der sozialhygienischen Richtung in der Gynäkologie, der frühere Berliner Gynäkologe1 Max Hirsch inauguriert hoc La engen Zusammenhange stehen die Fragen der außerhäuslichen Frauenerwerbsarbeit und ihrer schwerwiegenden sozialhygienischen Auswirkungen, die Max Hirsch zur Formulierung seines „Grundgesetzes der Sozialgynäkologie“ veranlaßt haben: „Mutterschaft und außerhäusliche Frauenerwerbsarbeit sind auf die Dauer unvereinbar“. Aus dieser Erkenntnis heraus wäre an sich das Streben berechtigt, die verheiratete Frau nach Möglichkeit der Familie und dem häuslichen Leben zurückzugeben — freilich unter bedingungsloser Anerkennung der Hausfrauenarbeit als Berufsarbeit. Versuche, die ' Frage der sogenannten „Doppelverdiener“ einfach auf dem Wege zu lösen, daß man die Frauen aus der Berufsarbeit verdrängt, müssen aber solange eine verbitternde und aufreizende Ungerechtigkeit darstellen, als nicht die Voraussetzung gegeben ist, daß der Ehemann einen ausreichenden Lohn verdient, um die Ehefrau und die Kinder standesmäßig zu erhalten.

Um nicht mißverstanden zu werden: es soll keiner Frau verwehrt sein, einen Beruf zu ergreifen, der für sie wirklich Berufung darstellt; nur soll sie nicht gezwungen sein, zur Berufstätigkeit als Ehefrau und Mutter, einzig aus dem Grunde, weil der Verdienst des Mannes nicht ausreicht. Der Familienlohn ist eben Voraussetzung zur Sanierung aller dieser gesundheitlichen u:id sozialen Mißstände. Ebenso hätte ja auch ein Gesetz zum Schutze des keimenden Lebens, so dringend es heute vielleicht mehr denn je ist, eine gleiche Voraussetzung.

Abschließend wird die Formulierung berechtigt sein, daß eine richtig verstandene Sozialhygiene schlechterdings undenkbar ist ohne einen auf richtiger Grundlage aufbauenden Familienschutz, denn dieser stellt einen integrierenden Teil der Sozialhygiene selbst dar. Hatte einst der Eugeniker Just die These verkündet: „Ohne Eugenik kann es nie eine Lösung der sozialen Frage geben“ — so können wir mit weit mehr Recht dem die These entgegenstellen:

Ohne Lösung der sozialen Frage, ohne Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit und Liebe, ohne sittliche Wiedererneuerung von Ehe und Famijie als Grundlagen der menschlichen Gesellschaft kann es niemals eine wahre Eugenik, eine wirkliche Sozialhygiene geben.

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